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Archiv-Artikel

Eine Schule, die Versagungen vermeidet

Mit Adorno Schule machen: Eine Hauptschule in der Provinz versucht, aus der Theorie des 100-jährigen Theodor W. Adorno eine handhabbare Praxis von Schule zu entwickeln. Keine durch verschärften Unterricht übergestülpte Aufklärung, sondern ein Beispiel für gutes Leben an den Rändern der Schule

Lebens- und Lernprojekte statt mobiler Adorno-Aufklärungstrupps

von NORBERT HILBIG

Wir wollten Schule machen. Unter den 300 SchülerInnen, die kamen, waren jene, die üblicherweise Hauptschulen bevölkern: schwierige und verstörte in großer Zahl. Abgeschobene, ungeliebte, verlorene Kinder, manche die sexuell missbraucht sind, von alkoholkranken Vätern geschlagen, von Müttern, von Gott und der Welt verlassen. Abgegebene und „ganz Normale“, gut Sozialisierte und Wilde, Ballspieler und Kaputtmacher haben wir, von Klasse 5 bis Klasse 10, von 10-Jährigen bis 19-Jährigen. Mädchen mit Kopftuch und Mädchen mit Minirock. Und das alles in der Enge einer kleinen Stadt, irgendwo zwischen Hildesheim und Hannover.

Theodor W. Adorno, der morgen 100 Jahre alt geworden wäre, ging so weit, „die Entbarbarisierung des Landes für eines der wichtigsten Erziehungsziele zu halten“. Gerade die jugendliche Bevölkerung außerhalb der Städte, so dachte Adorno, sei für den Zusammenhang von Autorität und Barbarei besonders disponiert. Dann wäre das Provinzstädtchen Elze, wo die Theodor-W.-Adorno-Schule ihren Sitz hat, der ideale Ort für unser Projekt. Wir, ein Kollegium von 30 LehrerInnen, wollten ein an Adorno orientiertes Erziehungskonzept ins Werk setzen. Mit Schülern, die nie in ihrem Leben einen Text von Adorno werden lesen können, Hauptschülern fern der großen Stadt.

Allerdings mutet die Methode, die Adorno für die Landschule vorschwebte, beinahe wie eine Guerillataktik an. Er sagte zum Beispiel, er könnte sich „vorstellen, dass etwas wie mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen von Freiwilligen gebildet werden, dass die aufs Land fahren und in Diskussionen, Kursen und zusätzlichem Unterricht versuchen, die bedrohlichsten Lücken auszufüllen“.

Die Forderungen, die Adorno hier stellt, wirken nicht nur naiv, sie sind es. Was er da plante, hätte die innerschulischen unterrichtlichen Zwänge durch außerschulische nurmehr verdoppelt. Es hätte dazu geführt, Barbarisierungstendenzen zu bedienen, statt sie zu begrenzen. Der Zusatzunterricht des kritischen Denkers hätte letztendlich bedeutet, sich der von ihm intendierten Entbarbarisierung in den Weg zu stellen. Denn schon die normale Schule ist ja mehr eine Anstalt denn eine Bildungseinrichtung. Hartmut von Hentig hat die Irrwitzigkeiten, die in dieser Schule herrschen, einmal so beschrieben: „Gegenseitige Angst und also ständiger Kampf zwischen Lehrern und Schülern; Hass auf die Schule, die Zwang ausübt […]. Gleichgültigkeit, weil einem nie etwas ernstlich anvertraut worden ist; Verstellung, weil sie sich lohnt, ja lebenswichtig ist. Kinder sind – wofür sie nichts können – Barbaren. Sie sind es vollends, wenn sie im Kollektiv leben, also in Schulen und Internaten.“

Eine neue Schule, so dachten wir, müsste also einen „neuen Geist“ gegen die Paradoxie entwickeln, die staatlich organisierter Schule innewohnt. Wir versuchen daher, die subversiven Möglichkeiten und Potenzialitäten einer kritischen inneren Schulreform zu nutzen. Das bedeutet: Wir wollen die Schule in ihrem Innern so verändern, dass ein Lebensraum geschaffen wird, der dem einzelnen Schüler eine Ahnung von einem herrschaftsfreien Miteinander vermittelt, von gutem, von gelungenem, von befriedetem Leben.

Der Alltag in der Theodor-W.-Adorno-Schule will Lust machen auf Schule und Lust an Schule. Licht und Farbe, Luft zum Atmen, Freundlichkeit mit dem Freundlichen und Nachsicht mit dem Unfreundlichen. Eine Atmosphäre, die einlädt zum Verweilen, nicht nötigt zur Flucht. Ein Klima von Wertschätzung gegen Jedermann. Wir versuchen Ernst zu machen mit jenem Lebensraum, der Schule heute sein könnte – und der immerfort doch nicht zustande kommt. Solche „Schullebensräume“ in der Provinz zu schaffen, das wäre weit eher ein Konzept gegen die Barbarisierung als ein übergestülpter Aufklärungsversuch.

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Dies ist der erste Satz in Adornos Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“ im Hessischen Rundfunk am 18. April 1966 – und das Fundament seiner Idee von Schule. Der Satz hätte eigentlich eine Pädagogik der Kritischen Theorie begründen müssen. Und zu einer Erziehungspraxis führen sollen, die seine Forderung einzulösen sucht. „Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht.“

Barbaren waren für Adorno Menschen, die „ohne Reflexion auf sich selbst nach außen schlagen“. Dagegen wollte er die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Aufklärung gesetzt sehen. Uns Pädagogen scheinen solcherlei auf Rationalität beruhende Konzepte wenig Erfolg versprechend. Neben der Aufklärung muss ein schulisches Leben installiert werden, das aufgrund eines „guten Lebens“ ein aggressives Ausagieren von Versagungen überflüssig macht. Ein von irrationalen Versagungen freies Leben verhindert aggressive Staus und Abreaktionen, es entzieht diesen die Grundlagen und Motivationen. Für uns folgt daraus die Errichtung einer Schule, in der der Einzelne sich geliebt, akzeptiert und angenommen weiß, in der er sich selbstbewusst und selbstbestimmt entwickeln kann. Es soll die Schüler immun machen gegen Gewaltreaktionen.

Soll sich nun gerade die Schule nach dem Diktum Adornos „entbarbarisieren“, so muss sie sich als Schule zurücknehmen. „Sie müsste auf weite Strecken aufhören, Schule zu sein, also durch Unterricht bilden zu wollen“, so Adorno. Was wir versuchen, ist etwas ganz anderes als die von außen kommende guerillahafte Verstärkung von Schule mit ihren normalen Mitteln. Wir verkleinern, im Gegenteil, die schulische Mitte, den Unterricht, und vergrößern die schulischen Ränder. Das sind die Handlungsfelder, in denen selbstbestimmt gearbeitet, gelernt, gelebt werden kann. Sie finden in der Schule statt – aber außerhalb des Unterrichts.

Hier liegen die Aufgaben von Erziehung und Schule; weit weniger im Aufklärungspaket, das qua Unterricht zwanghaft dem Subjekt angedient wird. Denn die schulische Autorität begünstigt nur allzu oft Autoritätsgehorsam und autoritäre Verhaltensweisen. Schule kennt heute keinen Rohrstock und keine äußerliche Züchtigung mehr. Aber sie setzt sich, immer noch, aus einer Vielzahl von Zwängen zusammen, die sie zu einem einzigen, von Irrationalität bestimmten Zwang kulminieren lassen.

„Wenn Angst nicht verdrängt wird“, schrieb Adorno, „wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewussten und verschobenen Angst verschwinden.“ Wer seine Angst im schulischen Lebenszusammenhang unbeschadet ausdrücken, zeigen, leben kann, der muss sie nicht – als unbewusst wirkende, mitunter in Hass verwandelte Angst – nach außen schlagen.

Einen ähnlichen Mechanismus beschreibt Adorno bei der Erziehung zur Disziplin durch Härte, die er „durch und durch (für) verkehrt“ hält. „Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte.“ Es sei daher eine Erziehung „zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und auf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten.“

Dass einer seinen Schmerz nicht ertragen, nicht aushalten muss bis zum „bitteren Ende“, im Unterricht vielleicht bis zum Pausenklingeln, das ist nicht durch Aufklärung zu vermitteln. Es muss erlebbar gemacht werden. Unsere Schule stellt daher Ausstiegsmöglichkeiten bereit. Wer nicht mehr kann, der wird nicht gezwungen, durchzuhalten und hart gegen sich zu sein. Wir geben Schülern die Möglichkeit, eine „Auszeit“ zu nehmen. Sie können die Klasse, den Unterricht verlassen.

Wir wollen die Frierenden nicht bilden, sondern wärmen

„Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme“, sagt Adorno, „fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann.“ Aber ist es überhaupt möglich, eine Schule zu schaffen, deren Gehalt, allgemein gesprochen, Liebe ist? Adorno wäre skeptisch. „Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch.“ In beruflich vermittelten Verhältnisse „wie dem von Lehrer und Schüler“ ließe sich Liebe ohnehin nicht einfordern.

Wohl wahr, Herr Adorno! Gleichwohl muss sie nicht künstlich sein. Ist es für den Gewärmten so wichtig, ob sein Wohlbefinden von der Sonne oder vom Kaminfeuer herrührt? Sollen wir den SchülerInnen, von denen wir mitunter wissen, dass sie von ihren Eltern nicht geliebt sind, ihren Zustand durch Schule verlängern? Oder sollen wir uns nicht wenigstens mühen, ihn zu kompensieren?

Was dabei für die Kritische Theorie der Gesellschaft gilt, das gilt auch für die der Schule. „Man konnte sagen, was an der gegenwärtigen Gesellschaft das Schlechte ist“, schrieb Horkheimer, „aber man konnte nicht sagen, was die Gute sein wird, sondern nur daran arbeiten, dass das Schlechte schließlich verschwinden würde.“ Hartmut von Hentig hat das für die Pädagogik skeptischer formuliert: „Schule kann nicht gut sein; es gibt immer nur Gutes in schlechten Schulen.“ Schule bleibt schlecht, es lässt sich nur das Gute im Schlechten mehren. Wir wissen ja nicht einmal, das Gute zu benennen. Wir können immerfort nur das Schlechte identifizieren und es zu verkleinern suchen, versuchen, es zum Verschwinden zu bringen.

Daher scheint uns Liebe möglich – in der Schule. Und sie wird ja auch gebraucht. Es geht nicht ohne Liebe. Der Pädagoge Siegfried Bernfeld wusste: „Das Kind bedarf eines gewissen Quantums Befriedigung seiner Liebestriebe, es muss sich geliebt fühlen und muss lieben dürfen. Wir wissen, dass es auch der Versagung bedarf. […] Aber wir wissen, über jeden Zweifel frei, dass die Liebe die unerlässliche Voraussetzung für jede Annäherung an die Norm ist.“

Mit Adorno Schule machen heißt die Wiederentdeckung der Liebe und sie leben im Wärmestrom; inmitten der Schule. Sie erlebbar machen. Mit ihr und durch sie Schule machen. Wir wollen die Frierenden, die nach Adorno am anfälligsten für Gewalt sind, nicht bilden, sondern wärmen.