REGIERUNG UND OPPOSITION BEHINDERN DIE REFORMDEBATTE
: Mehr Mut zum Fehler

Der Kanzler hat einen Fehler zugegeben. Er hätte gleich nach dem Machtwechsel den „demografischen Faktor“ lieber nicht aus der Rentenformel nehmen sollen, räumte Gerhard Schröder gestern in der Haushaltsdebatte ein. Und SPD-Fraktionschef Franz Müntefering ergänzte, natürlich würden der Regierung bei den Reformen auch wieder Fehler unterlaufen. Das klingt trivial. Es ist aber eine entscheidende Voraussetzung aller Reformen: Man muss sich in die Gefahr begeben, Fehler zu machen. Und solche eingestehen, sonst kann man nichts verändern. Insofern bot der Kanzler eine angenehme Überaschung.

Noch immer werden Politiker in Deutschland für Fehler oft maßlos kritisiert. Das gehört zu unserer Kultur – wie schon die Sprache offenbart: Einen Fehler muss man zugeben oder gar gestehen – das klingt schon sehr nach Gericht. Umso erstaunlicher, dass die Politik selbst so auf Fehlern herumreitet: Da bezeichnet Guido Westerwelle Schröders Amtszeit als „einen einzigen Fehler“, da sieht Angela Merkel dank Regierungspolitik Dämme brechen, und Friedrich Merz wünscht den Finanzminister gleich „zum Teufel“. Das ist ohne jedes Maß.

Dazu passt, dass die Opposition zwar stets Haushaltsdisziplin verlangt, selbst aber keine relevanten Sparvorschläge macht. So vermeidet sie es, womöglich unpopuläre oder auch nur undurchdachte Vorschläge zu machen – und womöglich selbst einen Fehler zu begehen.

Doch auch die Regierung ist noch weit entfernt von einem fruchtbaren reformerischen Prozess des Trial and Error. Es ist leicht, einen Fehler von vor fünf Jahren einzuräumen. Viel näher liegend wäre es, die Wachstumsprognose fürs kommende Jahr zu revidieren oder ehrlich zu sagen, dass der Haushalt ohne das Wohlwollen der Opposition Makulatur ist, weil die Spareffekte der vielen Gesetzentwürfe bereits im Haushalt eingeplant sind.

Noch immer überwiegt der Eindruck, dass nur dort wirklich zugepackt wird, wo wegbrechende Gelder keine andere Wahl mehr lassen. Das kann man an so großen Projekten wie der Gesundheitsreform erkennen, wo die wirklich bahnbrechende Idee der Bürgerversicherung so schnell aus der Diskussion verschwand, wie sie hineingeriet. Das fällt auch bei vergleichsweise so kleinen Details auf wie den 24-Stunden-Diensten der Krankenhausärzte, denen der EU-Gerichtshof nun ein Ende setzte. Obwohl übermüdete Ärzte eine Gefahr für jeden Patienten sind, obwohl vor drei Jahren gegen Spanien ein ähnliches Urteil erging, tat die Gesundheitsministerin nichts. Und selbst jetzt will sie die Umsetzung bis 2009 strecken.

Letztlich sind auch die Reformen im Sozialbereich erst auf den Weg gekommen, als die rot-grüne Koalition nicht mehr anders konnte. Das heißt aber nicht, dass die Wähler den Kopf wirklich frei haben für Reformen: Anders sind die ungebrochen guten Umfragewerte der Union nicht zu deuten. Es ist eben viel einfacher, nach den Fehlern zu fahnden, als sich auf Reformen einzulassen – denn die haben naturgemäß immer einen ungewissen Ausgang. MATTHIAS URBACH