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Archiv-Artikel

berliner szenen Ich liebe meinen Bezirk

Wurst für eine Woche

Ein Lastwagen steht auf der Mittenwalder Straße. Um den 7,5-Tonner bildet sich ein Menschenauflauf. Die Stimmung ist ausgelassen. Von der geöffneten Ladefläche reichen türkische Arbeiter im Blaumann Kartons nach unten mit Dingen, die sonst in den Kühlregalen der Supermärkte stehen. Die Leute stehen dicht, niemand drängelt. Manche grinsen. Für jeden ist genug da. Niemand streitet sich um die Lebensmittel.

Manche tauschen Sachen. Ich hab schon genug Vorderschinken, hast du noch etwas Käse? Ein Junge sagt, ich bin Vegetarier und möchte noch etwas Jogurt. Die Arbeiter versuchen, Wünsche zu berücksichtigen. Zwei schlanke drahtige Männer, die sicher schon seit dem frühen Morgen gearbeitet haben, küssen einander auf die bärtigen Wangen und lächeln ein bisschen. Ein gelungener Coup. In dem Supermarkt, in den sie die Waren hätten liefern sollen, sind die Kühlanlagen ausgefallen. Statt die Waren nun wegzuschmeißen, wie ihnen gesagt worden war, verteilten sie sie unters Volk. Die Arbeiter sind Helden. So hatte man sich früher den Kommunismus vorgestellt. Nach einer Stunde ist der Laster leer, man geht nach Hause mit Wurst für die nächsten Wochen im Gepäck.

Kreuzberg ist wunderbar. Das war schon am Sonntag auf dem Mariannenplatz beim „Karneval der Verpeilten“ zu sehen. Man muss sich – wie früher die Schwulen – das Schimpfwort zu Eigen machen: Wir sind drogensüchtig und psychisch völlig instabil, aber trotzdem ganz okay. Vorne gab’s Techno und ein paar tausend saßen da kiffend und biertrinkend herum. In Bayern wär eine Hundertschaft angerückt; am Mariannenplatz ging nur ein einziger Polizist spazieren. Ich liebe meinen Bezirk.

DETLEF KUHLBRODT