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Archiv-Artikel

Am Sonntag keine Stilettos

Der Ladenschluss und die Betroffenen. Eine erschütternde Doppelreportage

„Schlimm, schlimm, schlimm, schlimm. Schlimm ist gar kein Ausdruck“

„Wenn meine Frau am Sonntagnachmittag ein neues Paar Nietenstilettos braucht, weil bei mir abends sonst nichts läuft, steh ich auf dem Schlauch.“ Der für die Deutsche Bank und zwei Hand voll weitere Weltinstitute in höchster Position tätige Wirtschaftsanwalt Herbert K. ist stinksauer. Man kann förmlich dabei zusehen, wie das Blut vom bebenden Herzen in seinen kantigen Charakterkopf gepumpt wird. Auf Herbert K.s Stirn zeichnet sich eine voller echtem Pathos pulsierende, gartenschlauchdicke Vene ab.

Seit dem neusten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem die Geschäfte auch in Zukunft an Sonn- und Feiertagen geschlossen bleiben müssen, geht Herbert K. in die Offensive. „Es muss gegen den staatlich-judikativen Antiliberalitätsterror endlich was unternommen werden“, erklärt er mit schnittiger Stimme. „Ich bin dabei, eine Initiative zur totalen Mobilisierung in Sachen Ladenschlussgesetzaufhebung zu gründen. Geld und Unterstützung aus den wertschaffenden Kreisen sind ja reichlich da. Unsere Bedürfnisse werden in allen Aspekten mit geradezu vorsätzlicher Bosheit ignoriert. Diesen Sozen und Gewerkschaftern gehören Beine gemacht!“ Herbert K. atmet durch.

Verkäuferin Verena M. entfacht eine Lulle, Marke Auslese, und blickt mit wässrigen Augen auf ihre verwaschene Schürze. Sie schnauft ein wenig, dann schweigt sie. Nach ein paar Minuten scheint sie sich gefangen zu haben. „Ich darf ja eigentlich nichts sagen. Aber seit der Clement letztes Jahr diesen langen Samstag gemacht hat, sehe ich meinen Mann eigentlich nur noch sonntags nach dem Frühschoppen.“ Wieder senkt Verena M. den Kopf.

„Ich könnte den ganzen Tag ‚Bullshit!‘ brüllen!“ Offenbar genügen Herbert K. ein paar Minuten zu diesem Thema, um die rhetorische Maske des erfolgreichen Spitzenanwalts abzulegen und Klartext zu reden. „Unser so genannter Superminister ist doch eine Pfeife vor dem Herrn. Die Länder sollen künftig den Ladenschluss regeln, sagt er jetzt, nach dem Urteil. Da lache ich nur. Die Länder sind, mit Verlaub, Arschlöcher! Unterstützen mich die Länder dabei, am Sonntag in der Feinkostabteilung bei Kaufhof einen Karton Jack Daniels kaufen zu können?“

Herbert K. gellt geradezu. Das mag daran liegen, dass die Bundesregierung mitteilen ließ, der ganz lange Samstag trage „sowohl den Bedürfnissen des Handels, der Verbraucher als auch der Arbeitnehmer Rechnung“. „Den Bedürfnissen der Verbraucher? Die Verbraucher sind doch die, die sich den Verbrauch leisten können. Full Time, voll Force. Also wir. Die Erzeuger von Wachstum. Wenn ich ‚Föderalismuskommission‘ schon höre! Die soll das jetzt regeln. Da könnte ich … entsichern.“

„Unsere Gewerkschaft“, wechselt Verena K. unvermittelt das Thema, dabei zupft sie an ihrem strohigen, ausgesprochen grau melierten Haar herum, „unsere Gewerkschaft findet ja, dass das ein guter Tag für alle Verkäufer gewesen sein soll, das mit dem Gericht und so. Weil der Sonntag als Tag der Arbeitsruhe gesichert worden ist. Ich finde …“, Verena K. verstummt, während sie in einer Broschüre von Ver.di blättert. „Schlimm“, wollte sie wohl sagen. Sie sagt es nicht.

„Schlimm, schlimm, schlimm, schlimm. Schlimm ist gar kein Ausdruck. Arbeitnehmerschutz? Schutz vor Nachtarbeit? Ich arbeite schon mittags! Wenn ich am Sonntagabend ein zweites Paar Stiefelstilettos besorgen muss, darf dann doch die Schuhverkäuferindingsbums … Dingsbumsfrau … ein bisschen dankbar sein und …!“

Es ist elf Uhr morgens. Der Mahagonischreibtisch glitzert im gesprenkelten Sommerlichtfirn. Der Jack Daniels wirkt an diesem Dienstag scheinbar besonders gütig und zungenlösend. „Dem Verkaufsverbot machen wir den wir den Gaus … den Garaus“, gluckst Herbert K. „Ich“, er zieht die Büroluft tiefseetief ein, „ich [Kraftausdruck] die, ich … ich scheiß auf … äh … wie heißt der?“ – „Clement?“, werfen wir ein. „Clement. Ja, Clement. Den [Kraftausdruck] ich!“

„Die Ver.di hat gesagt“, fasst sich Verkäuferin Verena K. wieder ein bisschen, ein Schluchzen unterdrückend, „die hat gesagt, die neuen langen Samstagsstunden haben nichts gebracht.“ Die Röte aus ihrem Gesicht weicht nicht. „Ich hab SPD gewählt. Jetzt haben die Menschen Zeit einzukaufen. Und wie viel Geld haben sie? Ich arbeite in der Spirituosenabteilung. Was wollen die uns noch antun?“

Widerstand wächst auf allen Seiten. Wolfgang Clement, der deutsche Sagenhaftminister, ist zwar vorerst gescheitert mit dem Plan, „den Ladenschluss an Werktagen komplett freizugeben“, aber es wird kommen eine komplett neue, radikale Regelung, beschlossen durch die gute Föderalismuskommission.

Die Fronten sind verhärtet. Das Beste wäre, auch unter sportlichen Aspekten der Fairness und des Funs, Verena M. und Herbert K. bestellten die Sekundanten. Auf dass ein für alle Mal darüber entschieden werde, wie die neuen Zeiten zu gestalten sind. Zu unser aller Wohlstandswohl, jawohl und ja und überhaupt. JÜRGEN ROTH