: Modernes Ballett op de Deel
Heimat, heimgesucht von der Post-Moderne: Mit dem Kulturprojekt „Himmelfahrt Wesermarsch“ will die wirtschaftlich marode Region zwischen Lemwerder und Butjadingen ihr Selbstbewusstsein stärken und das Image polieren
von Jens Fischer
Bremen – und dann immer geradeaus. Richtung Norden. Richtung Idylle. Kühe und nochmals Kühe auf endlosen Weiden. Hier und da kuscheln sich ein paar Gehöfte um einen Kirchturm herum zu einem Dorf zusammen. Die Landschaft dehnt sich, wird flacher, versinkt im Wattenmeer.
„Den neun Gemeinden des Landkreises Wesermarsch geht es richtig dreckig“, sagt Honne Dohrmann (Foto: Stefan Bargstedt), der im vorigen Jahr des „Polyzentral“-Festival auf Kampnagel Hamburg kuratierte und derzeit künstlerischer Leiter des ersten „Himmelfahrt Wesermarsch“-Kulturfestivals ist, das sich vom 26. bis 29. August die Weser abwärts ereignen wird. Nach dem Niedergang der Werften seien die 90.000 Menschen der Region geprägt durch den Niedergang der örtlichen Industrie, aber auch stark betroffen von der Krise in der Landwirtschaft und der Fischerei. Man lechzt nach Strukturwandel.
Zu den über Generationen dort ansässigen Familien kämen, so Dohrmann, aber zunehmend gut verdienende Stadtflüchtlinge. Tradition und Moderne. Ein Kultur-Clash, der die Festivalidee liefert. Beispielhaft steht dafür das Festival-Eröffnungsprogramm „Diele & Tanz“.
Dans op de Deel – bekannt von Hochzeiten, Scheunenfesten, Maifeiern – trifft auf den abstrakten Expressionismus des modernen Balletts. Und zwar auf den Dielenbrettern des alten Gutshofes in Neuenhuntorf (Gemeinde Berne, heute um 19.30 Uhr). Die Seniorenvolkstanzgruppe des Nordenhamer Sportvereins zelebriert Brauchtumspflege. Anschließend wirbeln SolistInnen des Bremer Tanztheaters Auszüge aktueller Choreografien op de Deel, um kreative Verwirrung zu erzeugen.
Dies will auch das Konzept von „Stuben & Stories“. In Wohnstuben des Örtchens Brake treffen am Sonnabend plattdeutsche Heimatdichter und moderne Erzähler aufeinander, die sich mit der Aussiedlerproblematik beschäftigen. Die Tatsache, dass „Identität stiftende Heimat-Orte“ zur „Bühne der Post-Moderne“ werden, lobt denn auch Niedersachsens Kulturminister Lutz Stratmann als „zukunftsweisendes Projekt“.
Kultur als image- und identitätsförderndes Aushängeschild, das die Attraktivität der Region zum Wohnen und Urlauben ins Blickfeld rückt? Dormann: „Wir wollen vermitteln, dass man sich auch in einer Krisenregion stärker zu Hause fühlen kann, wenn man in die Auseinandersetzung über das Eigene und Fremde einsteigt, den Begriff Heimat in vielfältigen Facetten wahrnimmt.“ Wie geht das? Bisher würden sich die Neu-Wesermarschler und die Ur-Wesermarschler nur als Fremde kennen, die zufällig den gleichen Edeka-Markt benutzen, so Dohrmann. Also gelte es, schön viel Kluntjes in den Tee zu geben, vielleicht auch einen Köm, und beim Festivalbesuch aufeinander zu treffen. Das sei alles.
Für dieses Menschen verbindende Projekt hat man 15.000 Euro an EU-Mitteln zur Entwicklung des ländlich geprägten Raumes überwiesen bekommen. 23.000 Euro gibt das Land Niedersachsen. Der Rest des 49.000-Euro-Etats wird von Sponsoren getragen.
Weil Geld und Programm zum titelgebenden Festivaltermin noch nicht vorhanden waren, startet man jetzt etwas verspätet durch. Dohrmann: „Himmelfahrt ist ja ganz allgemein ein Zeichen für Aufbruch, der Titel passt auch im Spätsommer.“
In nächsten Jahr wird die Wesermarsch dann direkt am Himmelfahrtswochenende befeiert. Eine Sinfonie für zwölf Traktoren sei bereits komponiert, sagt Dohrmann. Und beim Pferdemarkt in Ovelgönne wolle man eine Landmaschinenparade organisieren – mit Sambamusik als Karnevalsumzug. Ganz klar: Angepeilt ist der Kultfaktor mit dem Exotismus des Bäuerlichen.