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Archiv-Artikel

Trickreich durch den Alltag

Analphabetismus ist in Deutschland immer noch ein Tabuthema. Der Welt-Alphabetisierungstag am 8. September soll daran was ändern. Die Volkshochschule Köln gibt Erwachsenen eine zweite Chance

Von Monika Bilstein-Deux

Oft ahnen selbst Familienangehörige und Freunde nichts. 15 Jahre hat sich Heinz Gilessen, ohne richtig lesen und schreiben zu können, durch die Tage gekämpft. Wie eingeschränkt sein Leben war, wird deutlich, als der Kölner erzählt, wie er sich nur auf bekanntem Terrain habe bewegen können. Ausflüge in eine fremde Stadt seien ohne Hilfe unmöglich gewesen.

Beruflich hatte Gilessen nach eigener Wahrnehmung weniger Probleme. Im Betonwerk, wo er beschäftigt war, habe er die Kompetenzen nicht gebraucht, sagt der junge Mann. Seit vier Jahren arbeitet er nun in einem Baustoffhandel, und hier hat ihm schließlich ein Kollege geraten, etwas zu unternehmen.

So hat sich Heinz Gilessen mit 28 Jahren entschlossen, einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule Köln zu belegen. „Früher konnte ich nur meinen Namen schreiben und vielleicht ein bisschen mehr, aber nicht so, wie es sein sollte. Der Unterschied ist kolossal“, freut sich Gilessen über seine Fortschritte. „Peinlich ist mir meine Schwäche nie gewesen“, sagt er. Er habe wegen einer Krankheit in der Grundschule oft gefehlt und deswegen Lesen und Schreiben nicht richtig lernen können. Später sei er zur Sonderschule gewechselt, aber erst, als auch dort der Lese- und Schreiblernprozess längst abgeschlossen war.

Und damit war seine Chance vertan, sich die Kompetenzen in der Schule anzueignen – eine typische Schulkarriere für „funktionale Analphabeten“. Untersuchungen haben gezeigt, dass es die Ursache dafür nicht gibt. Vielmehr ist es eine Kombination aus familiären, schulischen und individuellen Gründen wie häufiges Fehlen, Leistungsprobleme oder geringes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Seit Mitte der 70er Jahre hat die Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, dass in Deutschland viele das Schulsystem durchlaufen und dennoch kaum Lesen und Schreiben können. Nach Schätzungen des Bundesverbandes Alphabetisierung e.V. soll es allein in Köln 47.000 Betroffene geben. Michael Lewandowski, der die Alphabetisierungskurse an der VHS Köln leitet, glaubt, dass es noch mehr sein könnten. Durch seine langjährige Tätigkeit weiß er, wie sehr Menschen mit Problemen im Lesen und Schreiben im Alltag leiden und dass es oft Jahre dauert, bis sie den Mut fassen, aktiv zu werden. „Die Schwellenangst ist groß, viele zittern geradezu, wenn sie erstmals in den Kurs kommen. Das gibt sich aber rasch. Die Teilnehmer entwickeln ein Zusammengehörigkeitsgefühl, keiner macht sich über andere lustig.“

Analphabetismus ist immer noch ein Tabuthema, und die Überlebensstrategien von Menschen, die mit einem geschriebenen Text nur wenig anfangen können und dies verbergen wollen, sind ausgefallen: „Die Betroffenen arbeiten mit Tricks. Um nicht schreiben zu müssen, trägt einer etwa den Arm in einer Schlinge und erklärt, er sei verstaucht. Eine andere behauptet, sie hätte ihre Brille vergessen und könnte nicht lesen, was auf der Verpackung steht“, so Lewandowski. Beeindruckend sei bei vielen das gute Gedächtnis. „Sie lernen die Schriftzüge komplizierter Wörter oder komplette Führerscheinbögen auswendig, um nicht aufzufallen.“

Sven H. hatte einen Unfall und lag lange im Koma. Nun muss er seine Muttersprache neu lernen und gehört somit zu den Analphabeten. Nicole Lammers vom Institut Sprünge in Köln, das sich auf Alphabetisierung von Erwachsenen spezialisiert hat, kennt viele Schicksale. Neben individuellem Einzel- und Gruppenangebot bietet ihr Institut einen Stammtisch für Analphabeten an. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erhalten die Teilnehmer so die Möglichkeit, sich auszutauschen und festzustellen: Du bist nicht der Einzige, der ständig mit peinlichen Situationen zurechtkommen muss – etwa: Entschuldigung, kann ich meinen Fragebogen zu Hause ausfüllen?

Der nächste Stammtisch findet am 25. September 2004 um 10 Uhr in der Steyler Str. 11 in Köln statt (Tel. 0221/ 560 62 82). Anonymen Rat gibt es beim Bundesverband Alphabetisierung e.V., Tel. 0251/ 533344.