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Archiv-Artikel

Die Fassade der Republik

Ost- wie Westdeutsche inszenieren in diesen Tagen kollektiv ihren Abschied von der DDR. Schauplatz ist der Palast der Republik, ehemaliger Sitz der Volkskammer und zugleich Sehnsuchtsort der DDR

VON MARTIN REICHERT

Von wegen „Erichs Lampenladen“: So wie kein Berliner den Fernsehturm „Telespargel“ nennt, hat auch kein Ossi den Palast der Republik als Lampengeschäft bezeichnet. Es ist nur eine Legende, die sich um ein Gebäude rankt, das es nur noch als Skelett gibt, bis hin auf den letzten Rest Asbest abgenagt, und mit dem nunmehr jeder machen kann, was er will. Terrakotta-Nippes ausstellen oder Betriebsfeste feiern, so wie McKinsey, die gekommen waren, um auf den Gräbern des Sozialismus zu tanzen. Jetzt kann man auch Schlauchboot darin fahren.

Jede Legende trägt jedoch für gewöhnlich ein Körnchen Wahrheit in sich: Dafür, dass dieser Palast Dunkeldeutschland repräsentieren sollte, war es ungewöhnlich hell in dem von außen sonnenbrillengetönten Kasten, den schwedische Architekten dereinst in der historischen Mitte Berlins abgestellt hatten. Der Ostdeutsche Marc Pohl kann sich daran erinnern, muss sich erinnern, denn er ist in einem der Schlauchboote zur Abschiedsfahrt durch den Palast einer Republik angetreten, die es nicht mehr gibt. Im nächsten Frühjahr soll dann auch der Palast definitiv abgerissen werden. Marc Pohl hat genau 45 Minuten für den Abschied, dann ist das mit der Eintrittskarte erworbene Zeitfenster wieder geschlossen.

Sozialistische Glitzerwelt

Zunächst jedoch muss er durch einen Grenzkontrollposten, wo er genötigt wird, die Schuhe auszuziehen. Nicht, um den Bürger einzuschüchtern, zu erniedrigen oder an der Flucht zu hindern, sondern um die gesponserten „Berolina“-Schlauchboote zu schonen. AktivistInnen des Projekts „Fassadenrepublik“ haben die tiefer liegenden Teile des Gebäudes mit Teichfolie ausgelegt und geflutet, sie stehen in Gummistiefeln bereit, um die Schlange stehenden Besucher durch das knietiefe Wasser zu ziehen.

In den Achtzigerjahren hatte Marc Pohl den Palast regelmäßig besucht, etwa wenn die Eltern aus Jena zu Besuch in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik waren. In der an der Spreeseite des Palastes gelegenen Bierkneipe gab es immer freie Plätze und „gutes, günstiges Essen“ – Schnitzel und Rumpsteak satt. Das war nicht selbstverständlich, auch nicht im privilegierten Ostberlin. „Man ging mit erhobenem Haupt in den Palast, denn er galt als gehobene Architektur“, erinnert sich Pohl. Auch deshalb hatte er Freunde aus dem Westen dorthin eingeladen. Der von ihnen mitgebrachte Glanz des Kapitalismus verlor sich ein wenig im Glitzer des sozialistischen Vorzeigegebäudes, man musste sich nicht schämen. Weltniveau eben.

Sogar Rolltreppen gab es dort, übrig sind von ihnen nur noch die Betonfassungen, unter denen nun Schlauchboote mit Touristen, Fernsehteams, Neuberliner und ehemalige DDR-Bürgern wie Marc Pohl gondeln. Seine blauen Augen sind weit aufgerissen vor Neugierde und Skepsis, jedoch nicht vor Abschiedsschmerz, dafür ist es zu laut und chaotisch in dem gefluteten Labyrinth. Es gibt Inseln, von denen aus Schauspieler die Besucher anschreien. Mit Parolen, die schwer zu verstehen sind. Pohl erzählt, dass er sich kurz vor der Wende erfolglos beim FDGB um eine Traumschiff-Reise nach Kuba beworben hatte, kurze Zeit später konnte er reisen, wohin immer er wollte. Jetzt sitzt er im Schlauchboot und soll Abschied nehmen, schnell, es ist das erste Mal nach der Wende, dass er wieder hier ist. „Damals hat keiner so richtig Notiz genommen von der Schließung des Palastes, alle waren ziemlich beschäftigt“, sagt er und meint damit auch sich selbst: Nach der Wende ist er nach Amsterdam gegangen, hatte nicht nur die DDR, sondern gleich ganz Deutschland hinter sich gelassen. Vorher hatte er noch eine Anti-Kohl-Demo besucht: „Mir ging das alles viel zu schnell damals mit der Wiedervereinigung.“ Das Demonstrieren hat nichts genutzt. Die erste Anlegestelle ist erreicht, dort hält ein junger Mann einen Vortrag über Fassaden, auf Österreichisch. Von einheitlichem Plattenbau ist die Rede, und von Techniken der individuellen Wiederaneignung.

Die Apfelblüte der DDR

Marc Pohl hatte nicht in der Platte gewohnt, sondern in einer besetzten Wohnung in Berlin-Friedrichshain, so hat man das damals gemacht, wenn man keine Wohnung zugeteilt bekam, sogar Angela Merkel, die es heute gar nicht mehr erwarten kann, dass der Palast der Republik endlich abgerissen wird. Marc Pohl ist sich sicher, dass es eine politische Entscheidung war, den Palast zu schließen: „Asbest gibt es doch auch in westdeutschen Gebäuden, die werden deshalb auch nicht gleich abgerissen.“ Auf einem Dia ist ein grünstichiges Bild des Palastes zu sehen, mit einer Apfelblüte im Vordergrund. „Fußpilz“, tuschelt eine unaufmerksame Zuhörerin und massiert sich die nackten Zehen. Zeit, das nächste freie Boot zu nehmen.

Eine Dame mit kräftigen Waden zieht das Boot zum „Ahnenamt“. Dort werden Pfannkuchen gereicht, ein als Katze verkleideter Glatzkopf wäscht Marc Pohl die Füße mit warmen Wasser. Er tut dies miauend, es ist halt Kunst, eine „dramatische Installation“, doch keineswegs Dada: Ganz schön schattig im feuchten Untergeschoss des Palastes. Im Ahnenamt darf man sich aus einem Fotoalbum einen Ahnen aussuchen, für den man die Patenschaft übernimmt. Pohl wählt eine alte Dame und tauft sie auf den Namen Gertrud, das Foto darf er mitnehmen. Bilder der Vergangenheit: Als Dean Reed, der Cowboy der DDR, starb, hat Marc Pohl zum ersten Mal so etwas wie eine Verbundenheit mit der Kultur der DDR empfunden. „Mein Freund ist Westdeutscher, als er mich über Dean Reed befragt hat, habe ich gemerkt: Ja, das waren wir.“ Beim Anschauen des Films „Good Bye Lenin“ sei ihm aufgefallen, dass erst jetzt, wo es die DDR nicht mehr gibt, so etwas wie eine DDR-Identität entstehe. Er will nicht glauben, dass der Regisseur ein Westdeutscher ist.

Mit dem nächsten Schiff geht es zur Gondolieri-Schule, dort kann man lernen, selbst Schlauchboot zu fahren. Auf der Insel gibt es ein großes Hallo: Die Bardame der Schule sieht auf den ersten Blick aus wie eine Transe, heißt aber tatsächlich Gieslinde Strunz und hat mal im Frauenchor „Krasnajas“ russische Volkslieder gesungen. Sie kennt Marc Pohl noch von früher und bekennt: „Nein, zum Singen komme ich hier nicht, ich muss ständig Kaffee kochen.“ Dann reicht sie Schnaps, der Seele und Füße wärmt. „Glamourös“ sei der Palast gewesen, und auf jeder Etage habe er eine andere Farbe gehabt. „Ich kam ja vom Dorf, das hier war Hollywood! Die Welt!“ Beide, Gieslinde Strunz und Marc Pohl, erinnern sich nun an die riesige gläserne Blumen-Skulptur, die von endlos vielen Scheinwerfen bestrahlt im Foyer gestanden hatte. Eine Art „Singendes, klingendes Bäumchen“ wie im gleichnamigen Defa-Film, der symbolisch für das „Märchenland“ DDR steht, in dem so viel und gerne geträumt wurde, weil die real existierenden Verhältnisse oft grau und beschränkt waren – und auch für die ursprünglichen Ideale, die in diesem Staat dereinst hätten verwirklicht werden sollen. Abschied von der DDR? Vielleicht eher von der eigenen Kindheit. Marc Pohl ist 39 Jahre alt.

Mächtiger Amüsierpalast

Er kann sich nur dunkel daran erinnern, dass gleich nebenan damals die Volkskammer tagte, der Palast ja auch eine „Machtzentrale“ war: „Ich bin hier immer nur zum Amüsieren hingegangen.“ Der Palast war auch insofern ein Symbol für die späte DDR: Regierung und Volk hatten sich meilenweit voneinander entfernt, und das im gleichen Gebäude. Während die einen glaubten, dem Sozialismus zum Durchbruch zu verhelfen, waren die anderen damit beschäftigt, das individuelle Glück zu suchen. Parallele Welten.

Es ist kein Volkspolizist, sondern ein amerikanischer Cop, der auf die Überschreitung des Zeitlimits hinweist: Die 45 Minuten sind um, Marc Pohl muss die Fassadenrepublik verlassen, jenes „urbane Labor“, das als Zukunftsschule funktionieren soll und in dem für den einzelnen Besucher alles möglich ist: „Anything goes“, aber ganz schnell: Das Wasser sickert nämlich durch, die Haustechnik behilft sich derweil mit einer Gardena-Gartenpumpe, um der abfließenden Wassermassen Herr zu werden. Sie erinnern dabei irgendwie an deutsche Politiker. Im Foyer steht die sagenumwobene „rotierende Bar“ wie ein zerfleddertes Kirmes-Karussell nach einer jahrelangen Tournee durch das Deutschland der Spaßgesellschaft, sie hat kein Dach mehr. Nach der Schließung des Palastes hatte sie ein findiger Event-Mensch für sich gesichert und an Clubs vermietet.

Entleertes Emblem

Marc Pohl hat die Schuhe wieder an und steht mit beiden Beinen in Berlin-Mitte, in der Hauptstadt jener Fassadenrepublik Deutschland, in der alles möglich ist und in der niemand wirklich Zeit hat, Abschied zu nehmen: Die Gegenwart verlangt einfach zu viele Anstrengungen. Marc Pohl überlegt gerade wegen Hartz IV auf Ich-AG umzusatteln: Zwischenraumnutzung. Eigentlich ist er gelernter Puppenspieler, ausgebildet unter anderem an der renommierten Ostberliner Schauspielschule „Ernst Busch“.

Von der Bar aus sieht man das entleerte Emblem, in dem einst Ähre und Zirkel für die DDR renommierten. Man hat sie entfernt, obwohl sie ganz sicher nicht mit Asbest kontaminiert gewesen sind, eher mit Ideologie. Montagsdemonstrationen? „Ich wundere mich, dass die nicht schon früher auf die Straße gegangen sind“ sagt Pohl. Die anderen meint er, nicht sich selbst. Und was die anderen so umtreibt, weiß er auch nicht so genau, vielleicht eine diffuse Unzufriedenheit. Er fragt sich, ob man die Montagsdemos nicht mit dem Volkspalast-Projekt verbinden könnte. Warum nicht, McKinsey war ja auch schon da.