BETTINA GAUS über FERNSEHEN
: Live aus dem Schlachtfeld

Die Bilanz der Fernsehberichterstattung über den Terror in Beslan ist niederschmetternd: schnelle Bilder, keine Infos

„Ich muss mich jetzt hinter dem Auto verstecken“, sagt Peter Leontjew um 12.20 Uhr. Gerade erst hatte er mit mühsam beherrschter Stimme berichtet, ein Soldat unmittelbar neben ihm schieße plötzlich auf ein Wohnhaus – er verstehe das nicht. „Ja, Peter, riskieren Sie nichts“, beschwört RTL-Moderatorin Katja Burkard den Korrespondenten in Beslan. Wenig später muss sie das schon wieder sagen: „Peter, ich würde sagen, riskieren Sie da um Gottes Willen nichts. Es reicht auch, wenn wir Sie telefonisch …“ Der Reporter hatte gerade angekündigt, man wolle eine Kamera aus dem Schussfeld bergen, damit er live hineinsprechen könne.

Welche Informationen gewinnt das Publikum in einer derartigen Situation, wenn es einen Korrespondenten vor Ort nicht nur hören, sondern auch sehen kann? Wie hoch ist überhaupt der Informationsgehalt von Sondersendungen, wie sie die führenden Stationen eilends ins Programm gehoben haben? Die Bilanz vom vergangenen Freitag ist niederschmetternd.

Der Informationsgehalt tendierte gegen null. Nach eineinhalb Stunden wusste man: In Beslan ist Schreckliches passiert. Aber man wusste nicht genau, was passiert war. Man konnte weder die Folgen der Ereignisse noch deren Ursachen einschätzen. Man wusste eigentlich nichts.

Das ist kein Anlass für Schuldzuweisungen, oder falls doch: dann in diesem Falle wirklich nicht nur an die Adresse der Medien. Was haben denn die Zuschauer getan, für die diese Sondersendungen gedacht waren? Sie haben zwischen den verschiedenen Sendern hin und her geschaltet.

Das bestätigt vor allem die alte Erkenntnis: Wer den Fortgang von Ereignissen beobachten will, der schaltet immer genau dann um, wenn Programmmacher meinen, nun sei es endlich an der Zeit für seriöse Informationen über den Ursprung eines Konflikts. Wer also vor allem Quote machen will, der sollte sich jede Form der Hintergrundberichterstattung schenken. Damit werden allenfalls die Sehnsüchte der Konkurrenz bedient.

Die Ereignisse an der Schule in Nordossetien waren nicht vergleichbar mit dem Anschlag auf das World Trade Center 2001. ARD, ZDF, RTL und Sat.1 hatten die Entwicklung in Beslan – anders als seinerzeit in New York – erkennbar seit Tagen für möglich gehalten, und sie hatten sich entsprechend vorbereitet. Die einen seriöser und kenntnisreicher als die anderen, aber niemand so ganz furchtbar schlecht. Reale oder vermeintliche Experten standen abrufbereit in den Startlöchern. Redakteure hatten informative Beiträge vorbereitet, und Moderatorinnen und Moderatoren sprachen live mit Korrespondenten, die erkennbar wussten, wovon sie redeten.

Kann man mehr verlangen? Na ja, ein bisschen mehr vielleicht schon. Zum Beispiel ein höheres Maß an Selbstreflexion, auch und gerade im Blick auf die eigene Rolle. Inzwischen müsste sich herumgesprochen haben, dass öffentliche Aufmerksamkeit gerade in den Augen von Terroristen – die ihren Gegnern stets militärisch unterlegen sind – zur einzigen jederzeit verfügbaren Waffe geworden ist, die ihren Interessen dient. Die quotenstärksten deutschen Fernsehsender haben diese Interessen letzten Freitag bedient.

Und sie haben sich ein weiteres Mal darum bemüht, den Irrglauben zu nähren, dass die schnellstmögliche Übertragung gleichzusetzen ist mit dem höchstmöglichen Maß an Information. Davon kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Die Macher einer gut vorbereiteten Sondersendung sollten wenigstens die Chance bekommen Luft zu holen, bevor sie – ungesicherte – Erkenntnisse ins All pusten müssen. Auch im Interesse ihres Publikums.

Seit der Erfindung der Buchdruckerkunst ist über die Frage diskutiert worden, welche Inhalte massenhaft verbreitet werden dürfen. Die Frage ist beantwortet, jedenfalls in einer Demokratie: (fast) alle Inhalte. Wer im Computerzeitalter die Deutungshoheit gewinnen will, der muss jedoch über anderes reden: nämlich über Tempo, Form – und Würde. Nicht zuletzt die Würde der Opfer.

Fotohinweis: BETTINA GAUS FERNSEHEN Fragen zu Terror-Zappen? kolumne@taz.de Morgen: Kirsten Fuchs über KLEIDER