: „Davon geht die Welt nicht unter“
Interview HANNES KOCH
taz: Herr Flassbeck, über 30 Bundestagsabgeordnete von SPD und Grünen kritisieren die Agenda 2010 des Bundeskanzlers. Wie sehen Sie als Wirtschaftswissenschaftler die Reformen – Zukunftsprogramm oder ökonomisches Harakiri?
Heiner Flassbeck: Die Agenda 2010 wird das Wirtschaftswachstum nicht beschleunigen, sondern verlangsamen.
Also macht Wirtschaftskanzler Schröder ökonomischen Unsinn?
Einfach deshalb, weil durch eine Reihe von Maßnahmen die Löhne sinken, die die Bevölkerung für ihren Konsum ausgeben kann. Weil das an anderer Stelle nicht ausgeglichen wird, sackt die Nachfrage der Konsumenten weiter ab.
An welchen Stellen senkt Rot-Grün die Reallöhne?
Zum Beispiel sollen die Beschäftigten ihr Krankengeld für den Fall längerer Abwesenheit vom Arbeitsplatz in Zukunft privat versichern. Außerdem ist geplant, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen und die Zahlungen auf das Niveau der Sozialhilfe zu reduzieren. Stattdessen müsste man Impulse setzen: den Leuten mehr Geld geben, nicht weniger.
Da befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Die Gewerkschaft Ver.di und auch die Globalisierungskritiker von Attac, deren wissenschaftlichem Beirat Sie angehören, halten Kürzungen für fatal. Aber steckt der Staat finanziell nicht derart in der Klemme, dass er sparen muss?
Warum soll das der Fall sein?
Nehmen wir die Alterssicherung: Die Kosten für die Rente sind in den vergangenen Jahren schneller gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Und so wird es auch weitergehen. Volkswirtschaftlich betrachtet, muss die höheren Kosten irgendwer tragen.
Wir wissen recht wenig darüber, was in den kommenden 30 Jahren passiert. Wenn die Trends aber so weiterlaufen, wie sie sich abzeichnen, müssen die Jüngeren irgendwann mehr zahlen – vielleicht einen Rentenbeitrag von 25 Prozent ihres Lohnes statt der heutigen 19,5 Prozent.
Dann haben Sie also den negativen Lohneffekt, den Sie gerade kritisierten, und weniger Nachfrage.
Aber doch nicht heute. Die aktuellen Rentenprobleme haben nichts damit zu tun, welche demografische Entwicklung uns in 30 Jahren erwartet. Da liegt die rot-grüne Regierung komplett daneben. Heute ist die Ursache die hohe Arbeitslosigkeit. Weniger Leute arbeiten und zahlen so keine Rentenbeiträge mehr.
Die Zahl der Älteren im Vergleich zu der der Jüngeren nimmt heute schon zu. Wieso sollten die Finanzierungsprobleme erst später entstehen?
Weil wir es gegenwärtig nur mit einem leichten Anstieg zu tun haben. Das eigentliche demografische Problem erleben wir erst ab dem Jahr 2010. Dann steigt der Anteil der Rentenausgaben im Verhältnis zum BIP von heute gut zehn in Richtung zwölf Prozent. Und richtig relevant wird die Frage erst um 2030.
Demnach sind Teile der Agenda 2010 nicht falsch, sie kommen nur zu früh?
Wir sollten uns um unsere Probleme kümmern und die zukünftigen Fragen den späteren Generationen überlassen. Die müssen sich dann entscheiden, ob sie ihren Alten geringere Leistungen zubilligen oder höhere Arbeitnehmerbeiträge zahlen. Aber erst, wenn es wirklich so weit ist.
Viel Zeit ist nicht mehr bis 2010. In 20 Jahren gehen die geburtenstarken 1960er-Jahrgänge in Rente. Sollte man sich nicht möglichst schnell darauf vorbereiten?
Völlig richtig. Das würde die Regierung dadurch tun, dass sie heute die ökonomische Basis legt, damit die höheren Rentenkosten später bezahlt werden können. Das geht nur mit einer Politik, die das Wachstum fördert und es nicht beschneidet.
In Kreisen der Linken besteht große Abneigung, überhaupt ins Kalkül zu ziehen, dass es Argumente für Verschlechterungen auch bei den Beschäftigten geben könnte.
Was heißt hier „Verschlechterung“? Bei einer halbwegs normalen Entwicklung – zwei Prozent Wachstum pro Jahr – verdienen die Leute im Jahr 2030 etwa doppelt so viel wie heute. Dann werde ich mir wohl einen Rentenbeitrag von 25 oder meinetwegen auch 28 Prozent leisten können. Davon geht die Welt nicht unter. Sie geht nur scheinbar unter, weil wir uns eingeredet haben, es gäbe ein gewaltiges Problem bei den Lohnnebenkosten. Das aber stimmt nicht. Die gesamten Lohnkosten im Verhältnis zur Produktivität liegen in Deutschland niedriger als in vielen anderen Ländern, und wir haben keinen Grund zu glauben, dass sie in Zukunft stärker als im Ausland steigen.
2030 sind wir doppelt so reich wie heute, sagen Sie. Das müssen Sie erklären. Wo bleibt zum Beispiel die Inflation, die den Lohnzuwachs auffrisst?
Rechnen Sie einfach nach. Die gängigen Prognosen unterstellen für die kommenden Jahrzehnte ein durchschnittliches Wachstum von rund zwei Prozent pro Jahr. Die Inflation ist da schon herausgerechnet. Unter anderem durch den permanenten technischen Fortschritt wird die deutsche Gesellschaft beinahe unaufhaltsam reicher.
25 Prozent Rentenbeitrag – zusammen mit den anderen Sozialversicherungskosten und Steuern müssten die Beschäftigten dann 50 Prozent ihres Lohnes abgeben. Glauben Sie, dass die Bürger das überzeugend finden?
Wer sagt das denn? Möglicherweise haben wir bis 2040 wieder Vollbeschäftigung, oder die Steuern sind so gesunken, dass sie die höheren Sozialkosten ausgleichen. In jedem Fall muss man den Leuten erklären, dass sie angesichts ihres zunehmenden Wohlstandes vor steigenden Sozialkosten keine Angst zu haben brauchen.
Woher soll der Bundesfinanzminister das Geld nehmen, um den von Ihnen verlangten wirtschaftlichen Impuls zu geben, wenn er nicht vorher sparen darf?
Er gibt zusätzliche Staatsanleihen aus und verschuldet sich damit.
Die Rendite dieser Anleihen kommt später denjenigen zugute, die es sich leisten konnten, die Papiere zu kaufen: den Besserverdienenden und Kapitalinvestoren. Ist das in Ihrem Sinne?
Über die Verteilungswirkung von Staatsschulden weiß man so gut wie nichts. Aber selbst wenn die Verteilung nachteilig wäre – es gibt keine Alternative. Die Frage ist nur, ob Sie möglicherweise fragwürdige Verteilungswirkungen und eine ökonomische Stagnation gleichzeitig haben wollen – oder wenigstens eine gute Konjunktur.
Wie viel zusätzliche Schulden sollte Hans Eichel aufnehmen?
Seit drei Jahren stecken wir in der Stagnation. Die Einkommenserwartungen der privaten Haushalte sind sehr schlecht. Deshalb muss man viel Geld in die Hand nehmen, um das umzudrehen. Es geht um 20 bis 40 Milliarden Euro zusätzlich im Jahre 2004.
Dann würde alleine das Defizit im Bundeshaushalt den Stabilitätspakt von Maastricht sprengen – von den Löchern in den Kassen der Bundesländer ganz abgesehen.
Der Stabilitätspakt muss ohnehin flexibler interpretiert werden. Die gegenwärtigen Verhandlungen auf europäischer Ebene laufen ja schon in diese Richtung. Der Wert des Euro ist nicht nur stabil, er steigt. Das ist nur ein Argument dafür, dass wir uns einen größeren finanzpolitischen Spielraum leisten können.
Wem würde Eichels Finanzspritze denn zugute kommen?
Das läuft selbstverständlich darauf hinaus, über die größere Nachfrage die Gewinne der Unternehmen zu erhöhen. Das wäre die Folge der so genannten linken Defizit- und Nachfragepolitik. Komischerweise wollen das der Staat und die Unternehmen nicht. Sie plädieren dafür, dass man weiter spart und die Aussichten mies bleiben.
Eine erstaunliche Konvergenz zwischen Neoliberalen und Linken. Wie erklären Sie das Ihren Attac-Freunden?
So ist die Welt nun mal. Aber die Gewinne sollen ja nicht bei den Unternehmen bleiben. Wer der Wirtschaft mehr Einnahmen verschafft, sorgt dafür, dass sie positiver in die Zukunft schaut, bessere Löhne zahlt und Leute einstellt. In diesem Sinne muss der Staat seine Verantwortung übernehmen: Irgendwer muss sich in dieser Welt verschulden. Die privaten Haushalte sparen ja immer noch zehn Prozent ihres Einkommens. Diese Summen werden der Wirtschaft entzogen, und irgendwer muss sie reinvestieren. Wer kann es sonst tun außer dem Staat?
Wird die rot-grüne Regierung das Ruder innerhalb dieser Legislaturperiode noch herumwerfen?
Nein, sie ist zu sehr ihrem Denken verhaftet.
Was passiert stattdessen?
Wir bekommen eine konservative Regierung. Sehen Sie sich die USA an mit ihrem gigantischen Ausgabenprogramm. Hohe Schulden, hohe Gewinne für Unternehmen, so etwas Radikales können nur Konservative tun.