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Archiv-Artikel

vor zwanzig jahren Einkaufsfeeling vor dem Shopping-Zeitalter

Milch, Wurst, Käse, das war immer ein Kampf gegen die Zeit

Es soll ja Wochen gegeben haben, da war man samstags schon um 11 Uhr wach. Da hatte man in der Nacht davon geträumt, die Bude mal wieder auf Vordermann zu bringen. Da brauchte man plötzlich eimerweise Alpina-Farbe, Pinsel, Abdeckfolie, kurzum: Es konnte passieren, dass mitten im Wochenende noch ein schneller Ausflug zu OBI nötig wurde.

Doch damit fing das Problem erst an. Freitag hatte die Sparkasse schon um 13 Uhr geschlossen, und Donnerstag, am „Sparkassentag“ also, hatte man es bis 18 Uhr natürlich nicht geschafft, sein Auszahlungsformular auszufüllen und sich die Kohle am Schalter in die Hand zählen zu lassen. Es ist hier nämlich von einer Zeit die Rede, in der die EC-Karte noch nicht zum Kulturgut zählte, schon gar nicht bei der Berliner Sparkasse. Einer Zeit, in der Einkaufen noch kein Vergnügen war, sondern ein erbitterter Kampf gegen die Zeit.

OBI also, aber kein Geld. Manche sollen sich in diesen Fällen bei ihren Kumpels bedient haben, bei WG-Genossen oder Lebensabschnittsgefährten. Alles eine Frage der Kreditfähigkeit. Wer da passen musste, dem blieb nur eins: Rein in die U 1 und ab zum ICC. Dort nämlich, am Nabel der Westberliner Welt, hatte die Sparkasse eine von zwei Filialen eingerichtet, in denen man auch am Samstag Geld abheben konnte. Bis – sage und schreibe – 13 Uhr.

War auch dieser Gang erfolgreich, musste man nur noch Alpina-Weiß, Pinsel, Abdeckfolie in den Wagen schmeißen, und nichts wie ab zur Kasse. Um 13 Uhr war nämlich Schluss in Westberlin. Danach wurde am Schaufenster des Westens der Rollo heruntergelassen.

Was war das für ein Leben, möchte man heute seufzen. Während in westdeutschen Metropolen wie Stuttgart oder Kassel die Geschäfte unter der Woche bis halb sieben offen hatten, musste man in Westberlin Milch, Wurst und Käse bis sechs in der Tüte haben. Die Ossis, hieß es damals, hätten es noch schwerer. Samstags war da schon um elf Schicht. Mitten in der Nacht! Das konnte ja nix werden mit dem Sozialismus.

Wenn es denn wenigstens im Westen richtigen Kapitalismus gegeben hätte. Mit Käsetheken an Tankstellen und illegalen Spätkaufs in der Oranienstraße. Pustekuchen! Wer bei Milch, Wurst und Käse am Ladenschluss scheiterte, hatte nur noch zwei Chancen: Innsbrucker und Fehrbelliner Platz. Dort gab es U-Bahn-eigene Verkaufsstätten – teurer als jede Apotheke.

Aber da war ja noch Ullrich. Die Westberliner Institution, wie Iris Hanika einmal in den Berliner Seiten schrieb, die sogar von Ossis genutzt wurde. Heinz Knobloch war einer von ihnen, aber der ist ja auch schon tot.

Ullrich am Zoo lebt zwar noch. Seit aber jeder Bahnhof inzwischen seinen Lidl oder Minimal hat, ist das Ullrich-Feeling weg. Sind wir nun eigentlich wehmütig oder nicht?

Die guten alten Nachbarn jedenfalls, die einem in solchen Dingen einfallen, waren nicht immer ganz freundlich. „Zucker!?, Wat willste? Zucker!? Schieß dich ins Knie!“ Der war nebenan, die Nachbarn drüber wollte man besser nicht auch noch stören. Dann eben den Kuchen ohne Zucker backen, war ja ohnehin gesünder.

Oder man wartete bis Sonntag, 14 Uhr. Dann nämlich war Kuchenzeit, Bäckerzeit, Öffnungszeit. Nur: „Zucker? Selbst wenn wir den hätten, junger Mann, dürften wir Ihnen den nicht verkaufen. Heute gibt’s nur Kuchen.“

Westberlin war toll. Und wenn man die Provinz satt war, gab’s den Intershop an der Friedrichstraße – samt Kaffee und Zucker. Lebensmittel nach Westberlin schmuggeln, das war das Einkaufsfeeling vor dem Shopping-Zeitalter. UWE RADA