briefe an den präsidenten (6)
: Aber das, was Sie machen, Mr. President Bush, erinnert mich an das Mittelalter in den Geschichtsbüchern

Am 2.11. ist Präsidentschaftswahl in den USA. Bush oder Kerry? Für viele US-amerikanische Künstler ist diese Frage zur Schicksalsfrage geworden. Das Junge Theater wird vom 27.10. bis zum 3.11. unter dem Titel „mad(e) in Amerika“ in der Schwankhalle amerikanische und deutsche Künstler präsentieren, die sich mit Politik und Kultur in den USA beschäftigen. Vorab haben das Junge Theater und die taz Menschen aus Kultur und Wirtschaft gebeten, an den amtierenden, zukünftigen oder idealen US-Präsidenten einen Brief zu schreiben. Heute: Rabiye Kurnaz, in Bremen lebende Türkin, deren Sohn Murat, der im Grenzgebiet zu Afghanistan von US-Soldaten gefangen genommen wurde und seit Anfang 2002 in Guantánamo inhaftiert ist.

Mr. President Bush,

ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie 22-jährige Zwillingstöchter haben, die Sie bei ihrem Wahlkampf unterstützen. Es muss ein schönes Gefühl sein, wenn einem die eigenen Kinder bei der Arbeit behilflich sind. Und überhaupt Kinder zu haben, die Anfang zwanzig sind, die keine Kinder mehr sind, die ihre Ausbildung oder ihr Studium abgeschlossen und das ganze Leben vor sich haben.

Mr. Bush, auch ich habe einen Sohn, der 22 Jahre alt ist. Er wurde im Herbst 2001 von Kopfgeldjägern in Pakistan an Ihre Soldaten verkauft und befindet sich seitdem auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo. Er muss seit drei Jahren in einem dieser Hühnerkäfige unter unmenschlichen Bedingungen leben. Zur Zeit weiß ich nicht einmal, ob er am Leben ist, denn seit April 2002 habe ich von ihm keine Nachricht mehr bekommen. Nachdem ich die Berichte gelesen habe, wie Ihre Soldaten die Briefe und Fotos, die die Gefangenen von ihren Angehörigen bekommen, missbrauchen, kann ich keinen Brief mehr an ihn schreiben. Ich möchte nicht zu seiner Erniedrigung und Demütigung beitragen. Und wie ich meinen Sohn kenne, schreibt er aus demselben Grund nicht.

Ich hätte ihm so gerne ein Foto von seinem jüngsten Bruder Alper geschickt, mit dem er sich so gut verstand. Alper ist jetzt 8 Jahre alt und geht seit zwei Jahren in die Schule. Damals, als Murat noch bei uns war, war er noch ein kleines Kind.

Mr. Bush, Sie predigen bei ihren Ansprachen immer wieder Freiheit, die Demokratie und Menschenrechte. Aber das, was Sie machen, erinnert mich an das Mittelalter in den Geschichtsbüchern. Auch damals konnten die Stärkeren mit den Schwächeren so herumspielen wie Ihre Regierung heute mit uns und vielen anderen auf der Welt. Menschen zu Feinden zu erklären und jahrelang ohne Begründung gefangen zu halten, das gibt es in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie nicht. Wenn im Fernsehen die Folterbilder aus dem Irak gezeigt werden, wird bei uns sofort umgeschaltet. Denn wir haben über Medien erfahren, dass auf Guantánamo dieselben Folter-Methoden angewandt werden wie im Irak.

Ich mache mir große Sorgen um die Gesundheit meines Sohnes, kann seit drei Jahren nicht richtig schlafen. Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Nicht zu wissen, woran man ist und was man tun kann. Keine Antwort auf die ewigen Fragen von Alper zu haben, wo Murat geblieben sei. Aber trotz allem bereite ich mich so vor, als ob Murat morgen vor der Tür stehen würde. Ich will in den nächsten Tagen sein Zimmer renovieren. Ich werde für die Wände eine helle, aufmunternde Farbe aussuchen. Und Haustiere anschaffen, vielleicht zwei Kanarienvögel, die Murat so liebt.

Mr. Bush, wenn ich sehe, was Sie und Ihre Regierung mit uns machen, kann ich Ihnen für die Präsidentschaftswahlen keinen Erfolg wünschen. Aber ich wünsche Ihnen, Ihrer Frau und Ihren beiden Töchtern ein langes und gesundes Leben.

Rabiye Kurnaz