berliner szenen Bier oder Würde

Zum Hund werden

Ein letztes Bier noch, vor der letzten U-Bahn. Ich kehre bei Tante Irma ein, einer Kneipe in Kreuzberg. Ich wollte schon lang da hinein, Tanten mag ich. Innen ist es pieksauber, Automaten blinken, an der Wand Poster von James Dean. Hinter der Theke eine leicht gealterte Schönheit, die Angie gerufen wird. Einige andere Gestalten, die einer Jugend nachtrauern, die mit dem letzten Led-Zeppelin-Album endete, Rockergesichter, tätowierte Arme, alle in Bierrührseligkeit. Es gibt nur Kindl.

An der Theke ein Mann im Anzug, er ist so betrunken, dass er öfter aufstehen muss, um nicht vom Hocker zu fallen, ein leicht schwankendes Stehen, dann setzt er sich wieder. Und in der hintersten Thekenecke ein weiterer Trinker, die Grobmotorik ist schon dauerhaft geschädigt. „Angie“, brüllt er, „Angie, Angie!“ Sie sagt tantenhaft: „Jochen, du kriegst kein Bier mehr, wenn du schreist.“ „Angie, mein Engel“, brüllt er. Und brüllt weiter irgendwas, wenn jemand „Schnauze“ ruft, nimmt er das Wort auf: „Schnauze, Scheißschnauzen, Schnäuzen, meine Nase!“ Sein Verstand ist im Leerlauf. Wenn er nicht brüllt, murmelt er, verhältnismäßig leise: „Das ist doch keine Menschlichkeit, Männlichkeit, das ist doch kein Leben, ist doch keins, kein Bier.“

Plötzlich steht er auf, torkelt aus seiner Ecke in die Mitte des Raumes, stiert blöde, und es läuft ihm aus der Nase. „In deine Ecke!“, befiehlt Angie. Jochen stiert. „Platz!“, ruft Angie, „sofort! Platz! In deine Ecke!“ Jochen kehrt in seine Ecke zurück. Weil er brav ist, bekommt er ein weiteres Kindl. Er schweigt noch einen Moment, von der Anstrengung und der Aufregung ganz außer Atem. Dann, nach wenigen Minuten, bellt er wieder. Bellt und bettelt um Aufmerksamkeit.

JÖRG SUNDERMEIER