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Archiv-Artikel

Rauswurf in Rekordzeit

Handeln statt informieren: Die Flüchtlinge auf Lampedusa werden nach Libyen verfrachtet, ohne dass das italienische Kabinett darüber Bescheid weiß

Grundlage der Abschiebungen sind geheime Absprachen mit Libyens Regierung

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Auch gestern setzte Italien die am Samstag begonnenen Massenabschiebungen von Bootsflüchtlingen nach Libyen fort. Wer immer jetzt noch mit einem der überfüllten Kähne auf der süditalienischen Insel Lampedusa anlandet, muss mit dem Rauswurf in Rekordzeit rechnen: kurzer ärztlicher Check, ein bisschen was zu essen – und dann ab zum Flughafen, rein ins Flugzeug nach Tripolis. Schon am Wochenende sollen so zwischen 500 und 1.000 Flüchtlinge – verlässliche Zahlen gibt es nicht – zurück ans Südufer des Mittelmeers verfrachtet worden sein. Mittlerweile sind zwei Alitalia-Maschinen sowie zwei Hercules-Flugzeuge der italienischen Armee im Pendelverkehr Lampedusa–Libyen unterwegs; für gestern waren insgesamt etwa 20 Flüge geplant.

Auf den ersten Blick reagiert Italien jetzt auf die wohl letzte große Fluchtwelle dieses Sommers. In diesen Tagen ist das Wetter über dem Mittelmeer schön, ist die See ruhig, und allein seit Mitte letzter Woche trafen etwa 2.600 Migranten auf Lampedusa ein. Auf den zweiten Blick aber erleben Italien und Europa die erste direkt mit Libyen koordinierte Aktion gegen den illegalen Transitverkehr übers Mittelmeer.

Grundlage dieser Aktion ist offenbar eine geheime Absprache, die Innenminister Giuseppe Pisanu bei seinem Tripolis-Besuch am Sonntag vergangener Woche getroffen hat. So geheim war das Abkommen, dass bis zu seiner jetzt erfolgten Umsetzung weder das Parlament noch das Kabinett informiert waren. Der Minister für Auslandsitaliener, Mirko Tremaglia, jedenfalls gab im Corriere della Sera sein geballtes Unwissen zu Protokoll: „Die Luftbrücke von Lampedusa nach Libyen? Ich nehme an, dass sie Ergebnis des neuen Abkommens mit Libyen ist, aber ich weiß es nicht. Keineswegs ist über das neue Abkommen diskutiert worden.“

Diskussionen hält Pisanu auch weiterhin für überflüssig. Während sein Haus Auskünfte zu den Modalitäten der Massenabschiebungen zurückhält, befindet der Minister nur, der Einsatz sei „rechtens“. Punkt.

Aber welcher Einsatz überhaupt? Was auf Lampedusa mit den eintreffenden Flüchtlingen genau geschieht, weiß keiner. Italiens Staatsfernsehen RAI hatte für die Großaktion gegen die Flüchtlinge nur eine kurze Bildsequenz übrig: Sie zeigt, wie teils an den Händen gefesselte Männer von italienischen Beamten übers Flugfeld zu den wartenden Flugzeugen geführt werden. Humanitäre Organisationen haben keinen Zutritt zu den Sammellagern; niemand kann deshalb die dort erfolgenden Prozeduren auf ihre Rechtsstaatlichkeit überprüfen. Amnesty international und die Ärzte ohne Grenzen sprachen von schwer wiegender Verletzung italienischer Normen ebenso wie der internationalen Konventionen zum Asylrecht. Verräterisch ist alleine schon, dass Pisanu von der „Abweisung“ der Flüchtlinge redet, so als stünden sie an einem Grenzschlagbaum zwischen Libyen und Italien und als habe der italienische Grenzer nach Prüfung der Papiere beschlossen, die Elendsgestalten nicht ins Land zu lassen. Auf Lampedusa ist die Situation anders: Die Boatpeople sind zweifelsfrei schon auf italienischem Territorium, ehe sie dann per Flugzeug zurückgeschickt werden. Egal was Italien mit Libyen vereinbart: Sie haben das Recht auf Einzelfallprüfung, das Recht auch darauf, einen Asylantrag zu stellen.

Doch angesichts der Hauruck-Abfertigung spricht alles dafür, dass diese Rechte massiv gebrochen werden. Vollkommen unklar ist, ob die Flüchtlinge überhaupt im Beisein eines Dolmetschers angehört werden, ob ihnen Gelegenheit gegeben wird, ihre individuelle Situation darzulegen. Weit wahrscheinlicher ist, dass die Ankommenden summarisch geografischen Großräumen zugeordnet werden: 200 Eritreer und Äthiopier durften vorerst bleiben, während alle Menschen, die arabisch aussahen, Pech hatten. Auch die Abschiebepraxis von Lampedusa erscheint offen rechtswidrig. Erst im Juli hatte das italienische Verfassungsgericht das Ausländergesetz in diesem Punkt korrigiert: Abschiebungen sind nur noch möglich, wenn die Verfügung der Behörde durch einen Richter im Beisein eines Anwalts des Immigranten bestätigt wird. Das aber kümmert das italienische Innenministerium ebenso wenig wie die Frage, was mit den Zurückgeschickten in Libyen passiert – einem Staat, der nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat.