: Offensive der Ostalgiker
Lok Leipzig spielt nach der Wiedergründung in der elften Liga – dennoch ist ein Boom um den Fußballclub entstanden. Am Samstag werden mehr als 10.000 Zuschauer im Zentralstadion erwartet
AUS LEIPZIG RONNY BLASCHKE
Fünf Wimpel hängen schräg über dem Schreibtisch von Rainer Lisiewicz. Es ist einer von Rapid Wien dabei und einer vom Hamburger SV. Die Wimpel haben einen besonderen Wert für ihn. Sie sind wie ein Fenster in eine fremde Welt, die aus der Ferne verheißungsvoll glitzert, aber unerreichbar erscheint. Rainer Lisiewicz, 54, ist seit Sommer Trainer beim 1. FC Lokomotive Leipzig in der dritten Kreisklasse, der elften Liga. Rapid und der HSV kicken im Penthouse der Fußball-Pyramide, Lok versteckt sich im Erdgeschoss.
Draußen ist es dunkel geworden. In der Geschäftsstelle von Lok, einer grauen Baracke in Probstheida, im Süden Leipzigs, brennt nur noch in einem Büro Licht. Rainer Lisiewicz nimmt sich viel Zeit, um die wundersame Geschichte zu erzählen. Es ist eine Romanze, an denen die raue Branche der Balltreter so reich nicht ist, und ein Beispiel dafür, dass ein Verein auch ganz unten noch oben stehen kann. „Das ist Wahnsinn“, sagt er. Zehn Jahre hatte er für Lok in der Blütezeit gespielt, von 1968 bis 1978, als 100.000 Zuschauer im Zentralstadion keine Seltenheit waren. Der große Fußball war lange in Leipzig zu Hause. 1903 war der Verein erster Deutscher Meister geworden, damals unter dem Namen VfB. Rainer Lisiewicz sagt: „Was zu DDR-Zeiten passierte, war alltäglich schön. Was heute passiert, ist einmalig schön.“
Er meint die wieder erwachte Liebe zu Lok, dem populärsten der 92 Leipziger Fußballvereine. Am Samstag wird sie auf den Höhepunkt klettern. Mehr als 10.000 Zuschauer werden das Heimspiel gegen die Reserve von Eintracht Großdeuben besuchen. Im für 100 Millionen Euro gelifteten Zentralstadion. Die elfte Liga gastiert in einer Arena für die WM 2006. „Unser Star ist das Publikum“, sagt Rainer Lisiewicz. Der Verein hat schwere Monate hinter sich. Der VfB, 1991 zum Nachfolgeklub von Lok ernannt, verschwand im Frühjahr nach der zweiten Insolvenz in den Annalen des Fußballs. Auf 4,8 Millionen Euro hatten sich die Schulden getürmt, die letzten Notausgänge waren verschlossen. Die Erben wurden zur Strafe in den Keller gesperrt.
Sie wollen nicht mehr darüber reden, die Chaosjahre sind vorüber. Rund um das Bruno-Plache-Stadion hat man die letzten Spuren des VfB verschwinden lassen. Auf dem brüchigen Areal, das so aussieht, als stünde die Wende erst noch bevor, hat sich seit den großen Erfolgen von Lok nichts verändert: meterhohes Unkraut und Waschbetonarchitektur. Täglich kommen dutzende Menschen nach Probstheida, Fans, die sich jahrelang nicht haben blicken lassen. Weil sie das Gefühl hatten, nach der Wende betrogen worden zu sein. Um ihren Klub, um ihre Tradition.
Über 800 Mitglieder wurden seit der Neugründung geworben, viele helfen freiwillig, sie mähen Rasen, verkaufen Bratwurst und Bier. Insgesamt 15.000 Menschen sahen die ersten drei Auftritte im Plache-Stadion. Allein 200 Zuschauer waren zum ersten Training gekommen. Es war kein Training im eigentlichen Sinne, es war ein Casting. 100 Fans wollten Entwicklungshelfer werden, sie hatten eine der Zeitungsanzeigen gelesen. Einigen war das Vereinsleben so fremd wie das Cockpit einer Boeinig 747. Rainer Lisiewicz filterte die besten 20 heraus. Sein Mannschaftspuzzle, ein Thekenteam deluxe, kennt nach fünf Spielen noch keine Niederlage, das Torverhältnis beträgt 59:3. Zu den Schützen zählte auch der ehemalige DDR-Nationalspieler Henning Frenzel, ein 62-jähriger Veteran. Am Samstag wird Heiko Scholz auflaufen, früher war er in Leverkusen aktiv. Viele Idole haben sich um einen Tagestrip in die Vergangenheit beworben, es ist eine Offensive der Ostalgiker.
Zehn Jahre würde Lok brauchen, um auf dem schnellsten Weg erstklassig zu werden. „Das ist utopisch“, sagt Präsident Steffen Kubald. Er hat lange als Fanbeauftragter beim VfB gearbeitet, auf seinem Schreibtisch stapeln sich mehrere Kilo Papier. Der Sponsorenpool wächst wöchentlich. Auf 400.000 Euro beziffert er den Etat, andere Vereine der Kreisklasse würden davon zwanzig Jahre zehren. Abends geht Kubald in einem Restaurant kochen, reich wird man in der elften Liga nicht. Keiner der Spieler verdient einen Cent. Sie arbeiten als Handwerker oder Büroangestellte, sie studieren, sie leben noch bei ihren Eltern und zum Training kommen die meisten, natürlich, möchte man fast sagen: mit dem Fahrrad. „Sie sind stolz, hier zu spielen. Manche würden dafür bezahlen“, sagt Trainer Lisiewicz. Er selbst vertreibt hauptberuflich Solarien.
Nicht jeder freut sich über die Selbstheilung. Neidisch blickt der FC Sachsen Leipzig auf den Boom im Untergrund. Drunter und drüber ging es zuletzt in der Führung des Oberligisten. Dass nun der verhasste Rivale im schmucken Zentralstadion, wo seit Anfang des Jahres der FC Sachsen beheimatet ist, mehr Zuschauer anlocken soll, ist schwer zu verdauen. Den kleinen Riesen ist das egal. Gerne würden sie mit einem besseren Klub fusionieren, um ein paar Klassen zu überspringen. Sollte sich niemand finden, wird Lok weiter munter von Bolzplatz zu Bolzplatz tingeln. „Ich habe viel Geduld“, erzählt Rainer Lisiewicz und blickt auf die Wimpel in seinem Büro, „Otto Rehhagel hat seinen größten Erfolg mit 65 gefeiert.“ Bis zum 65. Geburtstag hat er noch elf Jahre Zeit. Langsam wird er sich jener fremden Welt nähern, die aus der Ferne glitzert. Langsam wie eine Schnecke. Aber ohne Schulden. Und mit großer Tradition.