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Archiv-Artikel

Happy Hour in Chiapas

San Cristóbal de Las Casas, die alte Kolonialstadt im Südosten Mexikos, war vor Marcos und den Aufständen unbedeutend auf der touristischen Landkarte. Heute ist die „Bar Revolución“ oder das „Zapata Vive“ Treffpunkt für junge Rucksackreisende

VON ANDREAS HENRICHS

Neil schaut auf seine Armbanduhr, springt auf und läuft quer durch den großen Raum zu der dunklen Holztheke. „Noch zwei Margaritas original bitte“, sagt er in Spanisch mit englischen Akzent. „Aber dos por uno, das geht doch noch, oder?“ Jorge der Barmann nickt und füllt mit einer kleinen Schaufel Eiswürfel in den Glasbehälter des Mixers. Neil geht zurück an den Tisch und setzt sich zu seinen beiden Begleiterinnen. „Wollt ihr wirklich nichts mehr trinken?“, fragt er die jungen Italienerinnen, „ihr habt noch zwei Minuten!“ „Nein danke“, sagt Laura, „wir müssen gleich zurück in das Posada, uns noch zurecht machen für die Ladies Night im Zapata Vive. Hier schau mal“, sagt sie und wedelt mit zwei Hochglanzflyern. „Der Tequila kostet nur einen Peso und ab zwölf dürfen auch die Männer rein.“ Sie grinst. Neil lächelt und saugt den Rest der Margarita durch den dicken Plastikstrohhalm. „Dann sehen wir uns heute Nacht“, sagt er. „Ich bleibe noch in der Bar Revolución. In einer Stunde beginnt die music in vivo. Jorge sagt, die Jungs sind echt klasse. Kommen aus der Hauptstadt und spielen jeden Sommer in San Cristóbal.“

Durch den Spalt der Flügeltür zwängt sich ein kleiner Junge, barfuß, in zerrissenen Hosen. Hinter seinem Rücken verstecken sich drei Indigena-Mädchen in rot-schwarzer Tracht. In ihren Händen halten sie bestickte Gürtel und Armbänder. Der Junge hält Neil eine winzige Tonschildkröte vor das Gesicht. „Compra la, solo cinco pesos, por favor – Kauf die bitte. Sie kostet nur fünf Pesos.“ Neil rührt mit dem Strohhalm in seinem leeren Cocktailglas, schaut auf die kleine Kubafahne über der Eingangstür und beginnt seine blonden Rastalocken zu ordnen. Der Junge macht einen Schritt zur Seite, streckt Irene die kleine Tonfigur entgegen. Sie presst ihre Handtasche fest in den Schoß, stellt ihren rechten Fuß in den Riemen von Lauras Rucksack. „No, no gracias“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Laura lässt sich ein schmales Armband um ihr Handgelenk binden und gibt dem größten der Mädchen 5 Pesos. Sie steckt die Münze schweigend in ihre Rocktasche und zieht mit den beiden anderen weiter an den nächsten Tisch. Irene und Laura geben Neil ein Küsschen auf die Wange. „Nos vemos – wir sehen uns!“, sagen sie und verlassen die Bar Revolución.

Die Avenida 20 de Noviembre ist voller Menschen. Durch das Spalier der Kaugummiverkäufer mit ihren Bauchläden aus Sperrholz und den dampfenden Bottichen der Maiskolbenstände fließt träge der Strom der Passanten, teilt sich an den ausgestreckten Armen der Brothändler, fließt wieder zusammen und staut sich an der nächsten Straßenkreuzung in einer Menschentraube. Stoßstange an Stoßstange stehen klapprige Colectivos und nagelneue Pick-ups aus den USA vor einer roten Ampel. Die Motoren stoßen beißende Schwaden in die klare Luft. Laura entdeckt eine Lücke und zieht Irene hinter sich her auf die andere Straßenseite. „Komm“, sagt sie, „wir nehmen die 5 de Febrero, ist einfach zu voll hier.“ Irene nickt und steigt vorsichtig über einen schlafenden Hund auf dem schmalen Gehweg. „Guck mal dahinten“, sagt sie und zeigt auf eine Gruppe Holländer in Shorts und Sandalen, „jetzt kommen sogar schon die Neckermänner hierher!“

Doña Rosita sitzt am Kopfende des großen Holztisches in der Küche ihres Posadas. „Hola, que tal – hallo, wie geht’s?“, begrüßt sie Laura und Irene. Sie wendet sich wieder zu den drei Französinnen in bestickten Blusen und Leinenröcken. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, passt mal auf, ich erkläre euch, wie das damals war. Das Posada habe ich vor 11 Jahren eröffnet. Es war das erste in diesem Viertel. Du bist verrückt, haben die Leute gesagt, die paar Touristen in San Cristóbal, von denen willst du leben? Was sollen die auch hier, ab acht Uhr abends ist kein Mensch mehr auf der Straße. Und ganz ehrlich“, erzählt Doña Rosita weiter, „sie hatten Recht. Im ersten Jahr konnte ich kaum die Miete zahlen. Und dann kommt Marcos mit seinen Kämpfern in Skimasken, besetzt die Stadt, und heute gibt es über 100 Posadas in San Cristóbal. Fünf alleine in dieser Straße.“ Doña Rosita schweigt einen Moment und dreht den Kopf zur Seite. „Entschuldigt mich einen Moment“, sagt sie, „ich muss zur Tür, ich glaube, es hat an der Tür geklopft.“

Sie kommt zurück mit einer blonden Frau in Trekkinghosen und einem riesigen Rucksack über der kräftigen Schulter. In ihrer Hand hält sie die neueste Ausgabe der Bibel, des Lonely-Planet-Reiseführers. „Setz dich erst mal zu den anderen“, sagt Doña Rosita. „Wie heißt du und was machst du in San Cristóbal?“, fragt sie. „Ich bin Sarah aus Schweden“, antwortet die junge Frau. „Ich war zwei Wochen in den Bergen. In einer autonomen comunidad. Als Menschenrechtsbeobachterin.“ Die Französinnen heben synchron ihre Köpfe und rücken mit ihren Stühlen näher an den Tisch. „Jetzt bin ich supercansado – super kaputt“, sagt Sarah „und mache hier erst mal so richtig Urlaub. Ihr glaubt gar nicht, was ich da oben alles durchgemacht habe.“ „Dann komm mal mit“, fordert sie Doña Rosita auf und erhebt sich langsam aus dem Küchenstuhl. „Hier entlang. Ich zeige dir jetzt dein Zimmer.“

In der Bar Revolución poliert Jorge die Gläser mit einem weißen Tuch. Maria, die Kellnerin, stellt die Hocker umgedreht auf die Tische, beginnt den Boden zu fegen. Neil sitzt allein an der Theke und hält seine Bierflasche mit zwei Fingern gegen das Licht der Deckenlampe. „Hör mal Jorge“, sagt er, „gestern war ich im El Puente. Da lief ein Film über die Zapatisten und ihren Kampf gegen die Regierung. „Todos somos Marcos – ‚Wir sind alle Marcos‘ hieß der. Glaub mir Jorge, eines Tages gehe ich da hoch in die Berge und dann bin ich mit dabei!“ Jorge nickt und poliert weiter die Gläser. Neil nimmt einen letzten Schluck aus seiner Flasche Superior. „Ich muss jetzt gehen. Hab noch eine Verabredung“, sagt er und grinst. Er wühlt mit beiden Händen in den Taschen seiner Jeans und legt einen 100-Peso-Schein auf den Tresen. „Stimmt so, Jorge“, sagt er. „Wenn du Lust hast, dann komm doch mit ins Zapata Vive. Ab zwölf Uhr dürfen auch die Jungs rein!“ Jorge schüttelt den Kopf, stellt die Gläser in das Regal hinter der Theke. „Dann bis morgen, nos vemos“, sagt Neil und tritt durch die Schwingtür in das Dunkel der menschenleeren Straße.