: „Die CDU hat den Schwächeren den Krieg erklärt“, meint Herr Hengsbach
Alle hoffen auf Wirtschaftswachstum. Doch ohne staatliche Investitionen wird es das nicht geben
taz: Die Agenda 2010 kürzt bei den Schwächsten. Ungerechtigkeit ist neuerdings gerecht. Warum?
Friedhelm Hengsbach: Die Betroffenen entscheiden nicht über die Sozialreformen der Agenda 2010. Man hat nicht den Eindruck, dass Bundestagsabgeordnete jemals befürchten müssen, als Arbeitsloser auf Sozialhilfeniveau leben zu müssen.
Aber die Bevölkerung scheint einverstanden zu sein.
Nein. Die SPD verliert doch massiv an Stimmen …
… die die Union gewinnt, die noch radikalere Kürzungen vorschlägt.
Die CDU hat den Schwächeren tatsächlich den Krieg erklärt.
Warum wird das in den Umfragen noch belohnt?
Es gibt eine Deutungshoheit von oben, die noch sehr mächtig ist. Zum Beispiel wird ständig von Experten geklagt, dass die Deutschen nicht flexibel seien. Das ist eine Legende. Jugendliche wandern von Osten nach Westen, ganze Regionen sind entleert. Betriebsräte erfüllen fast immer die Wünsche ihrer Arbeitgeber. Es ist ironisch: Wenn die Professoren die angebliche „Inflexibilität“ bedauern, dann reflektieren sie eigentlich nur ihre eigene Situation. Professoren, Akademikern, Beamten, Managern wurde bisher tatsächlich wenig zugemutet – deswegen scheinen sie zu denken, dass man auch Arbeitslosen ruhig noch mehr zumuten kann und muss.
Dennoch scheint der Glaube an das Expertenum ungebrochen. Eine Kommission folgt der nächsten.
Bei den Wählern gibt es ein tiefes Unbehagen. Die Widersprüche verunsichern. Die Politik kann nicht glaubhaft eine „demografische Krise“ beschwören, wenn gleichzeitig eine Million junge Menschen arbeitslos ist. Sie kann auch nicht das Rentenalter auf 67 erhöhen, wenn die meisten Betriebe noch nicht einmal mehr 50-Jährige einstellen.
Aber selbst Ihre katholische Kirche ist inzwischen ganz für die Reformen der „Agenda 2010“.
Die Kirchenleitungen sind nicht die Kirchen. Die Bischöfe wollten den Fehler der Gewerkschaften vermeiden, durch Konfrontation ausgeklinkt zu werden aus dem gesellschaftlichen Dialog.
Raten Sie also auch den Gewerkschaften, auf Kritik an der Regierung Schröder zu verzichten?
Sie müssten sich darauf konzentrieren, die Realität in den Betrieben an die Öffentlichkeit zu tragen. Sie müssten eine Gegenöffentlichkeit herstellen.
Interessiert die noch? Die meisten Wähler sind überzeugt, dass unser Sozialstaat nicht mehr finanzierbar sei.
Diese Hypothese vom „Wir müssen unseren Gürtel enger schnallen“ geht immer davon aus, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Tatsächlich leben wir unter unseren Verhältnissen. Wir nutzen nur 70 Prozent des Arbeitsvermögens, die anderen sind arbeitslos. Wir müssten uns fragen: Welche Bedürfnisse sind noch nicht befriedigt? Bei der Bildung, bei der Ökologie, in der Gesundheitsversorgung.
Dafür will anscheinend niemand zahlen.
Was politisch gewollt ist, lässt sich auch finanzieren.
Bei den Haushaltslöchern?
Wachstum wird immer vorfinanziert. Man muss Nachfrage schaffen. Das weiß auch die Regierung. Worauf hofft sie denn bei ihrer Konjunkturprognose? Auf hohe Exporte, also auf Nachfrage aus dem Ausland.
Gleichzeitig, und das ist widersprüchlich, setzt die Agenda 2010 im Inland auf die Angebotstheorie. Wenn viele Erwerbslose gezwungen werden, für kaum zumutbare Jobs zur Verfügung zu stehen, dann, so die Idee, entstehen neue Arbeitsplätze. Aber so funktioniert die Wirtschaft nicht.
Sie sind recht allein mit Ihren Ansichten. Wie gehen Sie mit dieser Einsamkeit um?
Das ist enorm schwierig. Wenn man Rot-Grün mit den gleichen Argumenten kritisiert wie vorher die Kohl-Regierung, dann fragt man sich schon: Bin ich vielleicht auf dem falschen Dampfer? Ist vielleicht doch nur richtig, was auch politisch mehrheitsfähig ist? Schließlich gehört Machterhalt ja dazu, um als Regierung reformfähig zu sein.
Und warum haben Sie sich dann nicht schon der Mehrheit angeschlossen?
Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft misst sich für mich daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN