: „Uns fehlt in der EU die Personalisierung von Politik“, sagt Herr Schulz
Das EU-Parlament bestimmt die europäische Politik, obwohl die Abgeordneten nur eine Minute Redezeit haben
taz: Als SPD-Wahlkampfmanager für die letzte Europawahl haben Sie gesagt, dass die Menschen Europapolitik als Regierungshandeln wahrnehmen. Würden Sie an diesem Satz fünf Jahre später noch festhalten?
Martin Schulz: Ja. Die entscheidenden Weichenstellungen kommen immer noch aus den nationalen Hauptstädten. In wichtigen Fragen müssen die Regierungschefs einstimmig entscheiden. Die Leute fragen deshalb zu Recht: Was tut die deutsche Regierung in Brüssel? Vor fünf Jahren hatten wir eine Wahlkampfplanung, die die deutsche Ratspräsidentschaft zum Thema machen wollte. Der Wahlkampf ist dann geführt worden übers 630-Mark-Gesetz und den Kosovo-Einsatz. Spätestens nach Lafontaines Rücktritt hat sich für den Berliner Gipfel und die Agenda 2000 keiner mehr interessiert.
Sie haben in Ihrer Wahlkampagne den SPD-Wählern bescheinigt, sie seien eher bildungsfern und daher schwer durch Europathemen erreichbar.
Bildungsfern? Hab ich das wirklich öffentlich gesagt? In der Praxis ist es für den Fließbandarbeiter unverhältnismäßig mühevoller, sich mit kulturellen Identitäten und institutionellen Gefügen auseinander zu setzen als für den universitär Gebildeten. Deshalb hat es unsere Wählerschicht mit Europa noch schwerer als andere. Das macht es für unsere Partei natürlich auch schwieriger.
Ist EU-Politik wirklich schwerer zu erklären als die Gesundheitsreform?
Nehmen wir das Beispiel Chemikalienpolitik. Selbst wenn wir den Leuten erklären würden, wie die Chemie-Richtlinie funktioniert: Beim Arbeiter in der Chemiefabrik kommt nur an, dass es die Kosten hochtreibt und Arbeitsplätze gefährdet. Irgendeine anonyme Institution in Brüssel hat das entschieden. Wäre da eine Gesundheitsministerin, die mit dem Parlament eine Vorschrift ausgehandelt hat, könnte der Wähler bei der nächsten Wahl daraus seine Konsequenzen ziehen. Uns fehlt hier in Brüssel die Personalisierung von Politik.
Wenn man bekanntere Köpfe braucht, wäre es dann für die SPD nicht besser gewesen, einen bekannten Politiker an die Spitze der Liste zu setzen?
Das haben sie doch gemacht. Ob ich wegen Berlusconi bekannt bin, ist ja völlig uninteressant.
Da kam Ihnen der Eklat im Europaparlament zweifellos entgegen.
Ich muss mir ja ständig anhören, dass die Leute fragen: „Was hast du dem Berlusconi bezahlt für den Promi-Effekt? Das war doch alles kalkuliert.“ War es nicht. Ich habe Herrn Berlusconi nicht darum gebeten, mich als Nazi-Kapo zu bezeichnen.
Wäre es nicht am besten, eine gemeinsame Liste für ganz Europa aufzustellen mit einem Zugpferd an der Spitze?
Wenn die Verfassung kommt und bei der Europawahl künftig über die Wahl des Kommissionspräsidenten mit entschieden wird, werden die großen politischen Familien sicherlich Spitzenkandidaten für ganz Europa nominieren.
Hat sich in den letzten zwei Legislaturperioden aus Ihrer Sicht die Rolle und die Arbeit der Europaabgeordneten verändert?
Das Parlament ist mit jeder Reformrunde mächtiger geworden. Es wächst zusammen. Das ist inzwischen der Ort, wo europäische Politik über die nationale Ebene hinaus gemacht wird. In der Irak-Debatte konnte man das sehr gut sehen. Wenn man bedenkt, wie uneins die sozialdemokratischen Regierungen waren – die sozialistische Fraktion war sich in dieser Frage ziemlich einig. Der durch das Parlament erzwungene Rücktritt der EU-Kommission unter Jacques Santer hat uns parlamentarischer gemacht, selbstbewusster gegenüber den anderen Institutionen. Aber wir müssen nun auch über eine Reform unserer eigenen Strukturen nachdenken.
Wie könnte die aussehen?
Über 700 Abgeordnete – das Parlament ist viel zu groß. Die Antrags- und Abstimmungsprozeduren über jeden Punkt und jedes Komma sind völlig ineffektiv. Einminütige Redezeiten halte ich für eine Menschenrechtsverletzung, besonders den Dolmetschern gegenüber. Was kann man in einer Minute Sinnvolles zu einem komplizierten Sachverhalt sagen, in einer Form, dass es auch noch in andere Sprachen übersetzt werden kann? Dass die Kommission dreißig Minuten redet, der Rat 35 Minuten und anschließend der Vertreter einer 231-köpfigen Fraktion wie Herr Pöttering vier Minuten – das ist ein Unding.
Europaparlamentarier springen oft von der kommunalen Ebene direkt ins EU-Geschäft. Hat die Gemeindeverwaltung von Würselen Sie gut auf die Arbeit in Brüssel vorbereitet?
Ich habe mehrere Jahre lang mein Mandat hier und das Bürgermeisteramt parallel ausgeübt. Ich erinnere mich an eine Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, in der der damalige französische Außenminister Alain Juppé die Lage auf dem Balkan beeindruckend analysierte. Dann traf ich nachmittags in meinem Rathaus irgendeine Bürgerinitiative gegen irgendeinen Bebauungsplan. Ich dachte: Die Welt steht in Flammen, und die sehen nur ihren Rübenacker. Umgekehrt gab es in Brüssel Debatten über Punkt- und Kommasetzung in irgendeiner Entschließung, bei denen ich dachte: Wenn die wüssten, was andere Menschen in ihrem Alltagsleben zu ertragen haben. Als Parlamentarier sollte man versuchen, zwischen beiden Extremen den Weg zu finden.
INTERVIEW: DANIELA WEINGÄRTNER