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Archiv-Artikel

Das Kollektiv und die Busfahrt

Der Reiseklub schöpft aus dem Potenzial der Volkssolidarität, der einzigen staatlichen Institution der DDR, die für die Fürsorge der Alten zuständig war. Sie hat die Wende überlebt und ermöglicht nun ihren betagten Mitgliedern organisierte Reiselust

von GUNDA SCHWANTJE

Unterwegssein – das hat Elda Clemens immer begeistert. Und sie wird weiterreisen, „solange meine Kraft reicht“, sagt die zierliche Dame resolut. „Ich will doch nicht bei meinen Kindern auf der Couch herumsitzen.“ Elda Clemens’ freundliches Gesicht voll feiner Falten ist von schneeweißen Locken umkränzt. Sie ist 84. Sie ist die älteste Frau im Bus.

Am Busfenster vorbei zieht die sanft geschwungene Landschaft des Riesengebirges. In langen, schrägen Streifen fällt Licht durch die Kiefern, fallen Sonnenstrahlen funkelnd auf das Wasser der Labe, so heißt die Elbe am Oberlauf, Buchen und Birken tragen Herbstfarben: Altweibersommer in Tschechiens Norden.

Der älteste Mann im Bus, das ist Heinz. Er ist 87 und Elda Clemens’ Reisegefährte. Seit gut zehn Jahren sind die beiden rüstigen Alten zusammen unterwegs. Im Doppelzimmer. „Ab und an gibt es ein Küsschen“, sagt Elda Clemens, „sonst läuft da nichts.“ Das erzählt sie gleich, weil sie noch einmal übers Heiraten nachgedacht hat, aber nach 30 Ehejahren und langem Alleinleben wäre das sicher nicht gut gegangen. Kennen gelernt haben sich die beiden Ostberliner auf einer Fahrt mit dem Reiseklub, Deutschlands führendem Veranstalter für Seniorenreisen, der auch diese einwöchige Busfahrt ins Riesengebirge zum so genannten Herbsttreffen organisiert. Aus diesem Anlass werden in 24 Reisebussen pensionierte Damen und Herren in die Berge Tschechiens gekarrt, und Elda Clemens und ihr Gefährte verbindet mit den insgesamt fast tausend Insassen dieser Busse eins: sie alle stammen aus der ehemaligen DDR.

„Abenteuer verkaufen wir nicht“, sagt Rainer Schulz vom Reiseklub. „Zentrale Reiseleitung“ steht auf seinem Schild am Revers, und Rainer Schulz ist verantwortlich für das Herbsttreffen, und dessen Schirmherr ist die Volkssolidarität, ein Sozialverband aus Ostdeutschland. Jedes Jahr, im Frühling und im Herbst, finden diese bei den Ostrentnern so beliebten Großveranstaltungen statt. Immer in einem anderen Land, nie mehr als ein paar Flugstunden von zu Hause entfernt oder per Bus erreichbar. Der 1991 gegründete Reiseklub (VSR Reisen GmbH) machte sich eine Marktlücke zunutze, die die Wende kreiert hat: die Reisefreude der DDR-Bürger. Sie wollten endlich ins westliche Ausland, und als sie schließlich in die kapitalistischen Länder reisen konnten, „haben wir den älteren Menschen ein spezielles Angebot gemacht, die betreuten Seniorenreisen“, erzählt Rainer Schulz. Insbesondere die Älteren mochten sich nicht mit den Widrigkeiten einer Individualreise konfrontieren, mit Sprachproblemen, mit Organisationsproblemen, mit den „Fährnissen des Auslands“. Sie wollten im Kollektiv verreisen – gemeinschaftliches Tun ist Heimat. Das macht der Reiseklub möglich. Und schöpft aus dem Potenzial der Volkssolidarität, der einzigen staatlichen Institution der DDR, die für die Fürsorge der Alten zuständig war, die Wende überlebt hat, einst zwei Millionen Mitglieder hatte und heute noch gut 400.000.

So eroberten zehntausende Ostrentner gruppenreisend den Süden. Zum Frühlingstreffen auf Mallorca 1996 zum Beispiel flogen 32.000 ostdeutsche Pensionäre auf der Mittelmeerinsel ein, auf Malta, ein Jahr später, versammelten sich 30.000 (jeweils verteilt über vier bis sechs Wochen), weiter ging’s an die Costa del Sol, nach Sizilien, in die Türkei. Allein hätte so mancher Kunde solche Reisen nicht unternommen, dessen ist sich Rainer Schulz sicher. Bequem unterwegs und behütet als Gruppe, in der viele einander kennen, das ist das Rezept des Reiseklubs, der auf eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte blicken kann.

„Aber bitte mit Sahne“ schlagert es aus dem Buslautsprecher, „Ti Amor“ und andere vertraute Klänge haben wir bereits hinter uns. Und wieder vor uns. Hinter dem Busfenster ragen silbrig leuchtend Baumstümpfe in den Himmel, skurril schaut das aus, an diesen Hängen hat der saure Regen gearbeitet. Elda Clemens, apart gekleidet und fein gemacht – sie hält auf sich – macht Reisenotizen. Für ihren Gefährten, dessen Sitz nun leer ist. Elda Clemens’ Satz „man weiß ja nicht, wie lange man das alles noch kann“, ein Satz, der immer wieder vorbeitreibt in diesen Tagen mit den 70- und 80-Jährigen, hat unvermittelt an Gewicht gewonnen. Ihr Freund liegt im Krankenhaus. Bei einem kurzen Gang vor die Bustür ist er gestürzt und nun in der Obhut der obligatorisch mitreisenden Ärztin.

Die rundum versorgte und geschlossene Gesellschaft: Abends im Hotel führen betagte Damen betagte Damen über das Parkett zu Walzer- und Foxtrottklängen der für sie engagierten Liveband, unterstützt noch von ein paar tanzbegeisterten Herren. Frauen stellen locker die Zweidrittelmehrheit der Ausflügler. Tags ist die charmante, emsige Fee des Busses, die Betreuerin Brigitte Mey (Anfang 60), zuständig für die gute Laune ihrer Gruppe. Sie serviert Kaffee und Tee, Bockwurst und Suppen. An ihrer Seite ist Frantisek Urbanec (73), ein tschechischer Reiseführer. Wissens- und Sehenswertes über das Riesengebirge (das nur 40 Kilometer lang und 20 Kilometer breit ist und jährlich 10 Millionen Besucher aufnimmt) sind sein Metier, und er macht seine Arbeit gern. Viel sehen wollen die Pensionäre. So geht’s nach Liberec (Stadtführung und Gelegenheit zum Einkaufen), nach Harrachow (Glasbläserei und Gelegenheit zum Einkaufen), nach Dvur Kralove (Safari-Park), nach Vrchlabi (Stadtführung und Gelegenheit zum Einkaufen) und in die anderen Orte und einmal ab in die Höhe auf 1299 Meter mit der Seilbahn auf den Cerna Hora (Besichtigung arktischer Tundra mitten in Europa). Den Rentnern gefällt’s, munter nehmen sie jeden Morgen Platz auf ihrem Sitz mit Aussicht.

Krönender Abschluss und Highlight eines jeden der alljährlichen Treffen ist eine Show, und noch lange wird die Rede sein von aus Funk und Fernsehen bekannten Überraschungsgästen, von Stars und Sternchen und dass Wein in Strömen geflossen ist. Dieses Jahr zum 25. Seniorentreffen laufen die fast tausend Rentner um die kleine Talsperre in Jablonec, ein bizarrer Anblick, beleben den eigens für sie errichteten Markt und nehmen in einer Sporthalle Platz. Der Conferencier begrüsst sie entsprechend der Region, aus der sie kommen: Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Mecklenburg und Berlin.

Da ist sie noch, ist sie wieder, die DDR, ist lebendig als Erfahrung, die alle vereint. Der stellvertretende Landesvorsitzende der Volkssolidarität Berlin, Klaus Sack, spricht ein kurzes Grußwort und fordert unter anderem die Angleichung der Renten an das Westniveau. Zum Tanz spielt eine einheimische Blaskapelle auf, Peter Altmann, er ist ein dem Publikum vertrauter Komiker, macht seinen Schwejk, den braven Soldaten, und andere Parodien unter ordentlichem Applaus. Die beiden ältesten Teilnehmer werden geehrt und die Geburtstagskinder.

Nostalgie ist spürbar. Selbstverständlich. Die Senioren haben ihre besten Jahren in der DDR verlebt, sie mit aufgebaut und niedergehen sehen. Immer wieder kommen die Gespräche auf damals, kommt der Vergleich. Klaus Sack, ein drahtiger Mann von 67 Jahren, zum Beispiel erklärt die Verstimmung mancher Ostdeutscher damit, dass die Lebensleistung der DDR-Bürger nicht anerkannt wurde; dies werde als tiefe Kränkung empfunden. Und Elda Clemens erzählt, sie habe sich ruhiger und glücklicher gefühlt in der DDR. Weil alles berechenbar und beständig gewesen sei: die Mieten, die Preise für Transport, für Lebensmittel. Alle hatten Arbeit, keiner hatte Angst, sie zu verlieren. Jetzt mache sie sich manchmal Sorgen um ihre Enkel und Urenkel. Die Kinder seien ja schon Rentner und in Sicherheit, aber ob die Urenkel auch Ausbildungsplätze finden würden? „Das ist doch wichtig, dass man seinen Platz einnehmen kann“, sagt sie und berichtet ohne Klage, es ist vielmehr die kühle Betrachtung einer Frau, in deren Leben so manches vorbeigekommen ist, und die weiß, was sie schätzt. Dann hält sie kurz inne und kommt zu diesem Satz: Sie, ihre Generation, habe doch den Krieg zweimal verloren: 1945 und mit dem Niedergang der DDR. Und nach dem Mauerfall konnte sie mit den großen Veränderungen nur schwer Schritt halten, das Tempo sei doch viel zu hoch gewesen.

„Muss i denn zum Städtele hinaus“ – mit diesem Lied verabschiedet Frantisek Urbanec die Ausflügler auf seiner Mundharmonika. Hinter dem Busfenster ziehen Häuser vorbei, von einigen blättert die Farbe ab, viele sind frisch herausgeputzt, hergerichtet für Touristen. Elda Clemens hütet ihre Souvenirs auf dem Sitz neben sich. Falls ihr Gefährte sich nicht von seinem Bruch erholen sollte, wird sie weiterreisen, „notfalls auch allein“, sagt sie. „Ich kenne das ja schon. Ich werde nicht zu Hause bleiben wie so viele andere Frauen, die allein sind.“

Neben den Jahrestreffen hat der Reiseklub Bus-Flug-Schiffsreisen für Senioren zu 140 Zielen in über 30 Ländern im Programm. Seit 2003 Abreiseorte in ganz Deutschland. www.reiseklub.net