piwik no script img

Archiv-Artikel

Verstrickt in der Opferrolle

Das deutsch-israelische Verhältnis ist geprägt vom Konsens über die Vergangenheit – und von einer bewussten Verdrängung aller Fragen zur Gegenwart beider Länder

Würde man hier einem Juden sagen, er solle sich seinen Bart abrasieren, seine Kippa entfernen?

Auf meinem Schreibtisch liegt eine Ausgabe der Berliner Boulevardzeitung BZ. Am Samstag, den 11. September 2004 lautete eine Schlagzeile, die sich über zwei Seiten erstreckte: „Jesus-Tag in Berlin!“ Darüber, in kleinerer Schrift, offensichtlich vor dem Ereignis geschrieben: „Über 50.000 Christen beten heute am Brandenburger Tor“. Unter der neunspaltigen Überschrift zeigte ein riesiges Archivbild (vier Spalten breit) Massen von begeistert winkenden Händen. In einer kruden Fotomontage in die Mitte geklatscht, wehen zwei Flaggen in der Luft: die deutsche Fahne mit der Aufschrift „Jesus ist hier“ und daneben die blau-weiße Fahne Israels.

Die israelische Fahne hier ist absurd, nicht nur weil diese Fahne im September 2004 (!) kein Symbol für die „Sehnsucht nach Frieden“ ist. Sondern auch weil sie symptomatisch ist für etwas anderes. Die deutschen Medien, Boulevardzeitungen wie die BZ eingeschlossen, können einfach nicht über Deutschland reflektieren, ohne nach der humanistischen Vergewisserung des Anderen zu suchen. Und welche bessere Unterstützung könnte es für christliche Deutsche geben, die in einer der europäischen Städte mit den meisten Muslimen leben, wo schreckliche Neonazi-Propaganda gegen Muslime verbreitet wird, als das jüdische – Verzeihung, nicht jüdische, aber israelische – Andere?

Durch einfache grafische Mittel, die auf andere, subtilere Weise wiederholt werden, wird die israelische Fahne – so wie Berlins Yitzhak-Rabin-Straße und jeder mittelmäßige israelische Film, der in die Stadt kommt – zu einer Bestätigung für die „deutsche Identität“.

Israel ist nicht einfach nur der Schlüssel für Deutschlands „Rückkehr in die Familie der Nationen“, wie früher gesagt wurde. Nur so ist zu erklären, wie die progressivsten Teile des Deutschen Bundestags gegen eine Entschädigung der Opfer des Völkermords an den Zigeunern votieren konnten, während die sonst so politisch korrekten Geschichtspolitiker unter uns schweigend dasaßen. Das ständige deutsche Kreisen um kollektive Identität braucht eine „humanistische Beziehung zum Anderen“. Und welcher Andere könnte praktischer sein als einer, den es lange schon nicht mehr gibt und dessen Platz nun „historischen Erben“ zugefallen ist, die nur innerhalb erlaubter Grenzen klagen? Wenn es um Zigeuner und Muslime geht, haben sie keine Meinung. Im Gegenteil, sie reihen sich freudig in die „Allianz des Westens“.

Seit dem Wiedergutmachungsabkommen mit Konrad Adenauer sind die Israelis für die Deutschen die Vertreter des jüdischen Volks – bevor irgendein anderes Land in der Welt es wagte, diesen Vertretungsanspruch anzuerkennen. Es hat Deutschland nur genützt. Es ist schwer, sich ein „Wir“ innerhalb der etablierten Domänen des deutschen Staats vorzustellen, ohne dass Juden oder der Holocaust erwähnt würden: ein Museum, eine Ausstellung, eine „Israel-Woche“, Spenden, ein paar Worte über den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, Amos Oz. Nichts, was auf ein ernst gemeintes politisches Engagement hinweisen würde.

Das ist also „unsere“ Rolle: ein Image für etwas zu liefern, für das die deutsche Sprache und die offizielle deutsche Kultur noch immer kaum geeignete Worte finden – die Nazi-Vergangenheit. Wir haben einen Deal: Du sagst nichts über die Apartheid in den besetzten Gebieten oder unsere Staatsbürgerschaftsgesetze, und wir sagen nichts über das Kleingeld, das ihr den Zigeunern vorenthalten habt.

Die deutsche „Gewissensprüfung“ der Vergangenheit, mit Israel als Vermittler, ist nicht dasselbe wie eine Inventur der Gegenwart. Tatsächlich ist dies das Geheimnis der Gewissensprüfung, in Deutschland wie überall: Es wirft einen Schleier über die Gegenwart. Deutschland ist in dieser Hinsicht weder besser noch schlechter als jedes andere Land. Traurig genug, ist der Holocaust in vielen Teilen des Westens zu einem Allzwecksymbol für das Böse geworden, das auch anderen verfolgten Minderheiten aufgedrückt wird, als wäre es auch für sie das ultimative Böse. Dem Massaker an den eingeborenen Indianern in Amerika ist kein solches Monument gewidmet, weil die Erinnerung an den Holocaust angeblich die amerikanischen Ureinwohner einschließt.

Es reicht, sich einmal auszurechnen, wie viel Geld aus Deutschland in die Taschen der israelischen Intelligenzija fließt – im Vergleich zu den Summen aus anderen europäischen Ländern –, um zu verstehen, wie sehr das deutsche Kultur-Establishment dieses Geschäft der Vergangenheitsbewältigung liebt. Hauptsache ist, es berührt nicht die Gegenwart. In der Gegenwart ist es schwer, ein Muslim in Deutschland zu sein. Es ist schwer, in Deutschland als Kind türkischer Eltern geboren zu werden, auch wenn diese selbst in Deutschland geboren sind. Die Neonazis mögen nur einen kleinen Teil der Wählerschaft für sich gewonnen haben, aber die Fremdenfeindlichkeit nimmt zu und wird nicht nur von Parteien des rechten Spektrums geteilt.

Die Obsession mit den Kopftüchern, die von muslimischen Frauen getragen werden, ist ein perfektes Beispiel dafür. Es ist ein Kampf, der elegant an den Juden vorbei geführt wird. Kein Jude, schon gar kein Israeli, hat die Deutschen je mit dem jüdischen Standpunkt konfrontiert. In einer lauten Diskussion, die bis tief in die Nacht ging, habe ich eine deutsche Frau (keine Rassistin, das versichere ich) gefragt, ob sie es wagen würde, den Juden diese Art der „Modernisierung“ vorzuschreiben. Würde sie einem Juden sagen, er solle sich seinen Bart abrasieren, seine Kippa entfernen und das Erscheinungsbild eines „universalistischen Menschen“ annehmen, soll heißen eines deutschen oder eines französischen Christen? Ihre Antwort war ein klares Nein, das würde sie von Juden nicht verlangen. Sie würde sich damit unwohl fühlen.

In Deutschland (wo sich das Thema auf die Kopfbedeckung von männlichen und weiblichen Lehrern beschränkte), haben die Juden eine erschreckende Zurückhaltung an den Tag gelegt, genau so wie in Frankreich. Niemand hat sich die Mühe gemacht, die sichtbar getragenen religiösen Symbole der Juden zu erwähnen.

Es gibt einen Deal: Ihr sagt nichts über unsre besetzten Gebiete, wir sagen nichts zu eurem Kopftuchstreit

Aber die Vergangenheit setzt sich in der Gegenwart fort. In Deutschland nicht in der Form des Nazismus, denn der ist tot, aber in dem Anspruch, „so wie wir“ auszusehen, gleichförmig zu sein. Die Zigeuner, die verschwunden sind? Wir pissen auf ihre Gräber. Die Zigeuner, die noch leben? Sie können tot umfallen. Türkische Mädchen? „Politischer Islam“, also potenzielle islamische Terroristen.

Aber Deutschlands Gegenwart und das, was es in Zukunft für „Ausländer“ bereithält im Kielwasser seines aktuellen ökonomischen Niedergangs, kommt mit sicherer Garantie. Emotionale Erpresser aus Israel, die die Tantiemen für die Leiden unserer Eltern und Großeltern einstreichen, versehen deutsche Politiker, von den Grünen bis zur CSU, mit einem amtlichen Siegel als beglaubigte Humanisten. Was für ein Erbe. YITZHAK LAOR

aus dem Englischen: Daniel Bax