: Was bedeutet es, die RAF zu verstehen?
Mit nachträglichen Distanzierungen verstellt man den Blick darauf, wie die RAF entstehen konnte. Sie war Teil eines deutschen Familienromans, in dem die Kinder unbewusst Aufträge der Eltern ausführten. Mit RAFlern zu reden, heißt nicht, ihre Taten zu billigen. Eine Gegenrede auf Jan Philipp Reemtsma
VON HORST-EBERHARD RICHTER
Jan Philipp Reemtsma verkündete in der taz sein definitives Urteil über die RAF, über ihre Beweggründe und über angebliche fragwürdige Versuche, sie nachträglich „als ein großes gescheitertes Gemeinschaftsprojekt“ zu verstehen und die daran hängenden Gefühle zu retten.
Gefragt, was ihn noch am Deutschen Herbst bewege, fällt Reemtsma ein, was ihn störe – nämlich die Bemühung anderer um ein großes „retrogrades Wir“. Es soll nach Reemtsma eigentlich nie um ernsthaft Politisches gegangen sein. Nur für die Kommunikation mit dem Umfeld habe das Politische eine Rolle gespielt. Ähnlich allen sonstigen terroristischen Gruppierungen seit dem 19. Jahrhundert sei es der RAF zuallererst um den Genuss der Macht in der Ausübung von Gewalt gegangen. Reemtsma schlägt vor, die RAF als Gebilde zu betrachten, das sich eine Identität zuschreibe, die es handelnd bestätige, nämlich durch das Töten von Menschen.
Aber war die politische Abstützung wirklich nur eine Selbsterfindung? Immerhin erklärte Hans Magnus Enzensberger 1967: „Es ist die Staatsmacht selbst, die dafür sorgt, dass die Revolution nicht nur notwendig (das wäre sie schon 1945 gewesen), sondern auch denkbar wird – wenn auch nicht – in absehbarer Zeit möglich.“ Kein anderer als der heutige Bundesminister Otto Schily erklärte noch 1981: „Wenn wir uns wirklich ein Bewusstsein über die tatsächlichen Vorgänge bilden, so ist es offensichtlich, dass unsere heutige militärische Sicherheitspolitik auf der Bereitschaft zum Verbrechen beruht. Das ist so, wie ich es sage. Deshalb soll man sich über die Verwirrung mancher politischer Gruppierungen, die gemeinhin als Terroristen bezeichnet werden, nicht so sehr wundern, denn dieser Kleinterrorismus, wie ich ihn nenne, ist nur eine Spiegelung des Großterrorismus, der die Militärdoktrin der Supermächte bestimmt.“
Noch manches andere wurde öffentlich gesagt und geschrieben, das Anwärtern, Freunden oder Mitgliedern der RAF durchaus den Anschein bot, mit der eigenen Empörung und Position nicht allein auf weiter Flur dazustehen. Jedenfalls erkenne ich heute von außen weniger Sehnsucht nach Belebung oder Wiederbelebung von Gemeinschaftsgefühlen als umgekehrt dringende Bedürfnisse nach größtmöglicher Distanzierung.
Die RAF entstand bekanntlich, als große Teile der jungen Generation Ende der 60er das Schweigen 20-jähriger Verdrängung der Älteren durchbrachen. Viele darunter gehörten zu den herangewachsenen Kindern, die ich in „Eltern, Kind und Neurose“ beschrieben hatte. Es waren die Kinder, die unbewusst von geschädigten, schuldbelasteten und von Verlusten traumatisierten Eltern überfordert worden waren. Jetzt wollten sie als Herangewachsene eine freiere, demokratischere, solidarischere Gesellschaft aufbauen. Bald wurden zwei Flügel sichtbar, einer der sozialreformistische Ziele verfolgte, ein anderer, der sogleich einem revolutionären Angriff auf das „System“ zusteuerte. Aber vorerst trafen sich beide Gruppierungen vielfach noch in konkreten sozialen Initiativen – etwa mit Obdachlosen – und Flüchtlingsfamilien, in Gemeinwesenarbeit, in sozialpsychiatrischen Reformprojekten, in Heimen und Gefängnissen. Ziele waren: Emanzipationshilfe für die Schwächeren, für die Behinderten, die Ausgegrenzten. Das hieß: Demokratisierung von unten oder – kritischer – Anarcho-Reformismus.
Ich selbst habe eine studentische Initiativgruppe in einem sozialen Brennpunkt mit 120 Familien und über 400 Kindern begleitet. Hier wie in anderen Projekten bereitete sich schon bald unter heftigen Auseinandersetzungen die Spaltung zwischen den beiden Flügeln vor. Die Radikaleren trieb der Gedanke um, mit sozialer Arbeit nur das „System“ zu stabilisieren. Die Mehrheit der anderen fand es vordringlich, die verelendeten Bewohner partnerschaftlich so weit zu fördern, dass sie sich erst einmal in der Gesellschaft behaupten können. Den Familien und vor allem den Kindern zur Überwindung ihrer gettoartigen Isolierung zu verhelfen – sollte das etwa kein sinnvolles politisches Ziel sein? Übrigens wurde daraus eine 30-jährige Erfolgsgeschichte.
Aber die Gegenposition übte seinerzeit eine beträchtliche Suggestivkraft aus. Es erschien wie ein zwingendes moralisches Gebot, die Kämpfer im Untergrund und die Gefangenen in den Haftanstalten nicht im Stich zu lassen. Es war nicht einfach, mit dem Argument durchzudringen, dass die Entscheidung für militärische Gewalt die Humanität vernichten würde, für die man zu kämpfen vorgebe. Drei eigene Bücher in jener Zeit: „Die Gruppe“, „Lernziel Solidarität“, „Flüchten oder Standhalten“ entstanden in Identifikation mit dem Selbstverständnis der sozialen Bewegung jener Jahre.
Wer sich indessen im Untergrund der RAF verschrieben hatte, den erreichte keine kritische Aufklärung mehr. Dessen absoluten Gehorsam bestimmte, psychoanalytisch formuliert, eine totale Übereignung des persönlichen Überichs. Dafür belohnte ihn die Gruppe mit der Verleihung einer fiktiven Selbstüberhöhung, abgestützt durch aggressive Abwehr enormer Ängste. Es war ein Klima, das ausweglos in eine psychotische Pathologie hineinführte: Realitätsverlust, Grandiositäts- und Allmachtswahn, absolute Unkorrigierbarkeit des verrückten Denkens, das nur noch im Raum des wahnhaften Verfolgungssystems funktionierte. Ursprünglich kritikfähige Köpfe trafen sich in der psychotischen Illusion, eine Hand voll Kämpfer mit Pistolen und Dynamit könnten die unterdrückten Massen außer in Europa in Afrika, Asien und Lateinamerika (Trikont) durch Ermordung von Schlüsselfiguren befreien bzw. zur Selbstbefreiung mobilisieren.
Als ich Birgit Hogefeld in ihrem Prozess beobachtet hatte, war mir als Psychiater klar, dass ihr eine Gesundung nach Abschirmung von der terroristischen Gruppe möglich sein würde und dass sie durch Unterstützung in sich den Menschen wieder finden könnte, der sie zuvor gewesen war: eine empfindsame Frau, die einst hatte Orgelbauerin werden wollen. Seit sechs Jahren sehe ich sie jetzt als amtlich zugelassener psychotherapeutischer Betreuer im Gefängnis und stelle fest, dass ich mich nicht getäuscht habe. Aus der wahnhaften Selbstentfremdung ist sie voll erwacht. Realitätsbewusstsein und Gefühlswelt sind längst wieder intakt. Sie studiert im Gefängnis erfolgreich im Rahmen der Fernuniversität Hagen. Ihr Spezialthema ist zurzeit Jüdische Literatur.
Ich bin nur einer unter mehreren, die sich um diese Frau kümmern. Ein anderer ist der Dokumentarfilmer Andres Veiel, der in seinem eindrucksvollen Film „Black Box BRD“ biografische Verflechtungen zwischen Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams einerseits und Alfred Herrhausen andererseits herausgearbeitet hat. Was Andres Veiel, den sehr viel Jüngeren, in die Nähe zu der Gefangenen geführt hat, müsste er selbst sagen. Eine eigene Entdeckung habe ich in meiner Autobiografie von 2001 beschrieben.
Birgit Hogefeld hatte einen Vater, der nach acht Jahren Militärdienst und Krieg in Russland als zermürbter Mann zurückgekommen war, beladen mit Bedrückungen, über die er kaum sprechen konnte. Nur in dürftigen Zeichen vermochte er Birgit, seiner Vertrauten in der Familie, seine Verbitterung anzudeuten. Sie spürte, dass es in ihm gärte und dass ihm die westliche antirussische Propaganda zutiefst zuwider war. Als schließlich ihre Steckbriefe in der Stadt aushingen, erfuhr sie, dass er darauf mit ungenierter Genugtuung reagierte, so als ob sie einen geheimen Auftrag von ihm auslebte. Mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht in seiner Nähe an der Ostfront gekämpft haben könnte wie er gegen russische Menschen, in denen ich nicht meine Feinde erkennen konnte. Wenn ich es nun leichter gehabt hatte, mit meinen inneren Belastungen zurechtzukommen, wohl ohne meine Kinder in diese Prozesse stärker hineinzuziehen, so fühle ich – wie ich geschrieben habe – „dennoch ganz persönlich etwas von der Mitverantwortung meiner Generation für solche extremen Lebensläufe wie den von Birgit Hogefeld.“ So kommt es mir vor, dass ich auch etwas für mich tue, wenn ich sie weiterhin im Gefängnis unterstütze und mich demnächst zum zweiten Mal für ihre Begnadigung einsetzen werde.
Reemtsma hat also Recht, wenn er mir eine empathische Verbindung zu Birgit Hogefeld zuschreibt. Aber er kann oder will nicht verstehen, dass diese Einfühlung nicht die Spur von Billigung der Mordtaten der Gruppe enthält, von denen ich übrigens nicht einmal weiß, ob und inwieweit Birgit darin verwickelt war. Denn ich hatte ihren Wunsch akzeptiert, wie im Prozess nichts zu erzählen, was die Erwähnung anderer Gruppenmitglieder unumgänglich gemacht hätte. Die Methode des bewaffneten Kampfs war mir stets zuwider, und nicht ich habe bagatellisierend von „Kleinterrorismus“ gesprochen. Genau in dem Text, den Reemtsma als Beispiel für meine angeblich verharmlosende Sprache anführt, habe ich geschrieben: „An den von der RAF begangenen Morden gibt es nichts zu beschönigen und zu verharmlosen.“ Deutlicher geht es doch wohl nicht.
Aber ein grundsätzlicher Dissens besteht darin, dass ich im Gegensatz zu Reemtsma den politischen Hintergrund der RAF für wichtig halte. Birgit Hogefeld und ihr Vater sind ein treffendes Beispiel, wie sich psychische Zerstörungen durch die Instrumentalisierung vieler Menschen unter der Hitlerdiktatur fortgeerbt haben, etwa durch unbewusste Übertragung von Hass- und Rachewünschen auf die folgende Generation. Solche Fälle waren Teil meiner Berufspraxis: so etwa manche Fanatiker, die sich an gesellschaftlichen Ersatzfeinden anstelle eines verhassten Nazivaters abreagierten, oder andere, die umgekehrt in Identifizierung mit widerwillig angepassten Eltern stellvertretend deren unterdrückte Aggression in sich aufgestaut hatten. Manche unnachsichtigen Verfolger des Bösen hassen übrigens, wovon sie selbst besessen sind.
Kein Terrorismus gedeiht ohne einen politischen Nährboden, der ihn erst möglich macht. Übersieht man die psychische Innenseite des Politischen, wird dieser Zusammenhang leicht unsichtbar, zumal dann, wenn die Unmenschlichkeit des Terrors seine absolute Ächtung fordert und jeden der heimlichen Komplizenschaft verdächtig macht, der besser zu verstehen sucht, was unfassbar sein und bleiben soll. Aber ohne den jeweiligen Nährboden von Terrorismus zu erforschen und die dabei zu gewärtigende Diskriminierung zu ertragen, erhöht man die Gefährdung, deren Verhütung anzustreben ist.