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Archiv-Artikel

„Die SPD verliert ihren Charakter als Volkspartei“, sagt Herr Walter

Wenn die unteren Schichten demnächst nicht vom Aufschwung profitieren, kann sich die SPD neue Programme sparen

taz: Es gab Parteitage der SPD, da wurden kurzerhand die Parteichefs ausgetauscht. Wird es ab Montag wieder so spannend?

Franz Walter: Nein, wie denn. Man kennt die vier bis fünf Halblinken und ahnt die zwei bis drei Halbjungen, die sich zu Wort melden werden. Schon jetzt lassen sich ihre Statements voraussehen – und hinterher heißt es dann, wir hatten immerhin eine Diskussion.

Die SPD kommt auf 25 Prozent der Stimmen in den Umfragen. Warum werden die Sozialdemokraten nicht panisch?

Ihnen fehlt der innere Druck, die Energie der Zukurzgekommenen. Die Sozialdemokraten sind mittlerweile arriviert, neu-mittig. Sie haben nicht mehr die Zielstrebigkeit der Aufsteiger. Das Arbeiterkind Schröder wollte noch nach oben, ist nach vorn geprescht, hat die Ellbogen ausgefahren. Aber er ist das letzte Exemplar dieser alten, aggressiven SPD.

Und die neue?

Die nächste Generation kommt nicht mehr von unten. Bei den meisten hatten schon die Eltern Abitur und ermöglichten ihren Kindern eine gemächliche Biografie.

Und das Leben bleibt so bequem für den Nachwuchs?

Die jüngeren SPD-Politiker können sich in aller Gemächlichkeit ausrechnen, dass sie es in sieben Jahren zumindest zum Staatssekretär gebracht haben dürften. Sie müssen nicht rangeln, es gibt keine Konkurrenz. Sie gucken nach vorn – und können ruhig feststellen, dass von der Generation Schröder kaum jemand übrig geblieben ist. Sie gucken nach hinten – und es kommt niemand Junges nach.

Werden wir demnächst von unfähigen SPD-Nesthockern regiert, die nur Karriere gemacht haben, weil es niemand besseren gab?

Es gibt unter den jüngeren Abgeordneten eine ganze Menge Fachmenschen. Einige werden handwerklich gute Minister sein.

Beruhigend.

Auch beklemmend. Denn es fehlen die ausgeprägten Kraftnaturen und Originale. Es gibt keinen modernen Bildungspolitiker, keinen kreativen Sozialpolitiker, keinen zeitgemäßen Ökopolitiker, nicht den Typus des reflektierenden Außenministers. Man hat auch zu den ethisch-religiösen Fragen nichts zu sagen.

Vielleicht ist die Gesellschaft ebenso mittig-schnittig wie die neue SPD.

Nein. Zum Beispiel zeigt der Shell-Report eindeutig, dass gerade die Arbeiterjugendlichen mit der SPD nichts mehr anfangen können. Die SPD verliert so ihren Charakter als Volkspartei. Ein Großteil der Arbeiter geht auf Distanz zur SPD – und das sind noch etwa 35 Prozent der Erwerbstätigen! Die Welt besteht nicht nur aus akademischen Dienstleistern, aber das nimmt die SPD nicht mehr wahr. Sie ist in einer saturierten Neumittigkeit angekommen.

Was ist das für eine Mitte?

Das sind die Leute, die jetzt nicht mehr von Gerechtigkeit reden wollen, sondern von „Teilhabe an Bildung“. Die genießen ihre Rotweine, ihre Wohnkultur und ihren Kunstverstand. Sie haben beides, Bildung und Geld – und rümpfen dann das Näschen über jene, die weniger besitzen und sich mit der Alternative „Bildung statt Mammon“ nicht zufrieden geben wollen. Das ist der bürgerliche Gestus des 19. Jahrunderts: philantropisch, protestantisch, patriarchalisch.

Ist die SPD nicht vor allem schlicht? Man hofft einfach, dass die Konjunktur rechtzeitig vor der nächsten Wahl anspringt.

Diese „Reformdividende“, wie Generalsekretär Scholz das nennt, wird den Sozialdemokraten gar nichts nützen. Sie werden, wenn sie nicht umverteilen, von unten abgewählt. Das kann man von Lissabon bis Oslo besichtigen. Die unteren Schichten sind unglaublich frustriert, enttäuscht und verbittert, wenn sie zwar Jobs haben, aber nicht von der ökonomischen Erholung profitieren. Die SPD kann sich ihre Programme sparen, wenn der Reichtum nur bei den Aufschwungsgewinnern hängen bleibt. Durch diesen sinnlichen Stachel wissen die unteren Schichten sowieso, dass sie ungerecht behandelt werden.

Sie müssen zugeben: Der neue Begriff der „Chancengesellschaft“ klingt gut.

So gut, dass ihn auch die CDU benutzt. Roland Koch hat ihn erfunden, und Erwin Teufel hat ein Buch darüber veröffentlicht. So ratlos ist die SPD: Sie muss sogar schon ihre Begriffe bei der Konkurrenz entlehnen.

Wählen die Deutschen also nächstes Mal das Original, die Union?

Das war das Spannendste in den letzten Monaten: Auch die CDU hat ihren Charakter als Volkspartei verloren – und sie war in der bundesdeutschen Geschichte immer die wichtigere Volkspartei. Aber die „Agenda 2010“ der SPD hat auch in der CDU eine neue Enthemmung bewirkt. Ihre Vorschläge sind noch radikaler unsozial. Das wird die Union in zwei bis drei Jahren zerlegen, denn sie hat ja auch Wähler in den unteren Schichten.

Also verabschieden Sie die SPD aus der Geschichte?

Nicht so schnell. Ich fand den Begriff der „öffentlichen Güter“ nicht schlecht, den Bundestagspräsident Thierse eingeworfen hat. Denn: Nach allen Phasen der Entstrukturierung und Deregululierung kommt die Renaissance der vernachlässigten kollektiven Güter. Am Ende der ökonomischen Sanierung wird es um Gesellschaftspolitik, um die zweite Bildungsreform, um Infrastruktur gehen. Das mag die Sozialdemokratie wieder bewegen. INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN