: „Wir inszenieren kein Getto-Theater“
KANAK-SPRAK Deutschlands Migranten drängen auf die Bühne. Shermin Langhoff leitet seit Herbst das Ballhaus Naunynstraße in Berlin und macht dort „postmigrantisches“ Theater. Ethno-Zoo oder überfällige Korrektur?
■ Die Intendantin Seit Herbst 2008 leitet sie das Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Schirmherr: Fatih Akin. Zuvor erfolgreich am HAU-Theater in Berlin tätig.
■ Die Deutschtürkin Geboren wurde sie 1969 im türkischen Bursa. Sie kam 1978 mit ihrer (kommunistischen) Tante nach Nürnberg. Das war kurz vor dem Militärputsch in der Türkei. Ihre Mutter arbeitete bereits hier, erst bei der AEG, dann bei Telefunken und später als selbstständige Schneiderin. Ihr Vater als Prokurist.
■ Ihr Weg Sie lernte sehr schnell Deutsch, machte Abitur, wurde Verlagskauffrau, Aktivistin, heiratete Lukas Langhoff, mit dem sie eine Tochter hat.
INTERVIEW ANDREAS FANIZADEH
taz: Frau Langhoff, wie würden Sie die Naunynstraße und die Lage Ihres Theaters innerhalb des neuen Berlins beschreiben?
Shermin Langhoff: Über die Kreuzberger Naunynstraße wurde in den letzten drei Jahrzehnten viel geschrieben. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Armut, ethnische Probleme. In diesem Zusammenhang erlangte die Naunynstraße sicherlich einen gewissen Bekanntheitsgrad.
Gegenüber Ihrem Ballhaus Naunynstraße liegt die Naunynritze, ein Jugendzentrum mit einmal nicht dem allerbesten Ruf.
Klar, aber auch mit einem sehr guten Ruf. Seit Anfang der 80er-Jahre machen sie dort unter schwierigen Bedingungen Streetprojekte. Da sprach noch kaum jemand von „Integration“.
Auch die hohe Politik kommt heute gerne in die Naunynstraße, zuletzt waren die Herren Köhler und Steinmeier hier.
Minister Steinmeier hat die Voreröffnung unseres Ballhauses im November gemacht, im Rahmen des „interkulturellen Dialogs“, den das Auswärtige Amt fördert. Da traten prominente Künstler und Sportler wie der Schalke-Spieler Gerald Asamoah für ein weltoffenes Deutschland auf. Das Auswärtige Amt fördert auch weitere Projekte aus unserem Umfeld sowie den Austausch zwischen Berlin und Istanbul.
Und Herr Köhler kam dann ein bisschen später in die Naunynritze?
Ich war selbst nicht da, als der Bundespräsident das Jugendzentrum besuchte. Sehr interessant war aber in diesem Zusammenhang, dass einem Referenten des Bundespräsidenten unser Transparent sauer aufgestoßen ist, das quer über die Straße gespannt war und auf dem stand: „Die Naunynstraße füllt sich mit Thymianduft, mit Sehnsucht und Hoffnung, aber auch mit Hass.“ Das Zitat stammt von Aras Ören aus den 70er-Jahren.
Wurde es abgenommen?
Es wurde von der Naunynritze tatsächlich abgehängt. Unser Transparent war ja auf der anderen Seite an ihrem Haus befestigt. Die offizielle Argumentation war dann allerdings eine sicherheitstechnische.
Trotz solch kleiner Unstimmigkeiten, zum wachsenden Ansehen des Stadtteils trägt nun auch Ihre Spielstätte bei. Fatih Akin ist Schirmherr, Feridun Zaimoglu lässt hier inszenieren. Wie kam’s dazu?
Durch langjährige, gemeinsame Zusammenarbeit. Uns verbindet freundschaftlich wie kulturell eine gemeinsame Haltung. Und so kommt es, dass wir als kleine Institution, aus der dritten Reihe, dennoch ganz gute Kontakte haben.
Sie waren vorher am Hau in Berlin als Dramaturgin tätig?
Ich war freie Kuratorin und habe dort in drei Jahren die „Beyond Belonging“-Reihe entwickelt.
Wie kamen Sie dazu, das relativ etablierte Hau-Theater zu verlassen, um mit dem Ballhaus in der Naunynstraße eine eigene Spielstätte zu eröffnen?
Inszenierungen wie „Die schwarzen Jungfrauen“ von Zaimoglu und Senkel, „Jenseits bist du schwul oder Türke“, „Klassentreffen – Die 2. Generation“, „Meine Melodie“, „X-Wohnungen“ fanden bundesweit Beachtung. Neben Zaimoglu und Fatih Akin haben viele andere wie Ayse Polat, Neco Celik und Nurkan Erpulat hier zum Teil ihre ersten Theaterinszenierungen gemacht. Aber das Ganze hatte Festival-Charakter und dabei blieb es am Hau. Wir haben in drei Wochen unsere Produktionen gezeigt und anschließend waren wieder die Franzosen, Chinesen oder Brasilianer dran. Das war uns nicht genug.
Wieso, was hätte noch passieren müssen?
Es geht darum, die Frage nach dem Zustand des deutschen Theaters prinzipieller zu stellen. Wie man neue Protagonisten und migrantische Erzählperspektiven dauerhaft und besser verankert. Und wie man mit bisher vernachlässigten Rezipienten und Communitys besser und anders kommuniziert.
Und das konnten Sie dort nicht?
Wenn wir der zweiten und dritten Einwanderergeneration eine neue Kulturpraxis eröffnen und ernsthaft eine Plattform bieten wollen, dann geht das über den Rahmen eines regelmäßigen Festivals wie „Beyond Belonging“ hinaus. Wir müssen selber etwas wirklich Eigenes auf die Beine stellen. Dafür brauchen wir einen entsprechenden Gestaltungsspielraum.
Sie bezeichnen Ihr Theater als „postmigrantisch“. Was ist daran migrantisch, was postmigrantisch?
Den Begriff „postmigrantisch“ hab ich über die angloamerikanischen Literaturwissenschaft vor etwa zehn Jahren kennen gelernt. Es scheint mir einleuchtend, dass wir die Geschichten der zweiten und dritten Generation anders bezeichnen. Die stehen im Kontext der Migration, werden aber von denen erzählt, die selber gar nicht mehr gewandert sind. Eben postmigrantisch.
Die postmigrantische Kulturproduktion reicht also über die vorherige migrantische hinaus?
Ästhetisch war die alte migrantische Kulturproduktion sehr mit dem Begriff der Betroffenheit verbunden, mit Filmen wie „40 Quadratmeter Deutschland“ von Tevfik Baser oder Helga Sander-Brahms’ „ Shirins Hochzeit“. Es war oft ein Erzählen über das Ankommen in der neuen Umgebung und die Traumata der Migration. Für die zweite und dritte Generation stellt sich vieles heute anders dar und manches ist teilweise überwunden. Dafür stehen Fatih Akins Filme, die universell und transkulturell wirken.
Und im Theater?
Von der klassischen Theaterwelt wurde das Migrantische – anders als im Film – nicht wirklich wahrgenommen. Mit den Wanderungsbewegungen gab es migrantisches Theater, aber vor allem als Kabarett und heute als Comedy. Auch in den Vereinigten Staaten waren die Schwarzen zunächst beim Amüsement und in der Unterhaltung der Mehrheitsgesellschaft präsent. Sie sollten am besten über sich selbst sprechen und lachen. Film und Fernsehen in Deutschland haben nun die ursprüngliche Subkultur der Kanak-Sprak gebrauchsfähig und für den Mainstream verwertbar gemacht. Im Film gab es ausmachbare Episoden wie das „Kino der Fremdheit“, der „Metissage“ oder das transkulturelle und hybride Kino von heute. Migrantisches und postmigrantisches Theater ist demhingegen niemals vom deutschen Kulturbetrieb ernst genommen worden und dort auch nie angekommen.
Sie sprechen von der mangelnden Durchlässigkeit des deutschen Systems?
Vom fehlenden Interesse an der gesamten Thematik und an den Perspektiven migrantisch geprägter Akteure. Vom Desinteresse der Alteingesessenen an dem globalisierten Teil der Gesellschaft. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Gleichzeitig schreiben Sie in einem Text über Ihre Faszination für Frank Castorfs Volksbühne in Berlin?
Ich hatte früher in Nürnberg gelebt und da hat mich das dortige Theater nicht so interessiert. Als ich Anfang der 1990er-Jahre nach Berlin kam, sah ich Frank Castorfs Nibelungen mit Birol Ünel als Siegfried. Das war phänomenal!
Ein postmigrantisches Einsprengsel im Theaterbetrieb?
Aber eben Einsprengsel. Leute wie Frank Castorf machen kluges Theater, auch wenn sie sich nie speziell für Ausländer oder das Migrantentheater interessiert haben. Aus einem philosophischen Kontext und einer gesamtgesellschaftlich kritischen Haltung kann er natürlich so eine Setzung machen wie damals bei den Nibelungen.
Wäre es nicht klüger, Minderheitenpositionen im bestehenden Theater zu stärken, anstatt eine eigene „migrantische“ Spielstätte zu betreiben?
Ich glaube nicht mehr daran, dass man an den bestehenden Institutionen sich über einen Originalitätsfaktor hinaus entfalten kann. Meine Erfahrungen sind andere. Es wäre schön, wenn wir uns in fünf Jahren mit dem Ballhaus Naunynstraße überflüssig machen, weil alle Theater in Berlin und Deutschland nun migrantische Akteure und deren Themen und Sichtweisen berücksichtigen.
Was ist das Problem?
Die Leitungen der Kulturapparate sind komplett eindimensional besetzt. Vor 15 Jahren hat ein Birol Ünel den Siegfried gespielt, und was ist heute? Es gibt eine Ilknur Bahadir, die nun endlich im Ensemble von Karin Baier in Köln bei Alvis Hermanis sein darf. Zuvor hatte sie mit großen Regisseuren wie Stephan Bachmann gearbeitet, aber spielte immer die Dirne, die Putzfrau und die Exotin. Und es gibt darüber hinaus im deutschen Kulturbetrieb dafür kein Bewusstsein und keine besondere Förderung dieser Minderheiten. Es ist auch nicht so, dass aus den Akademien ständig Künstler mit einem migrantischen Hintergrund nachkämen. Das hat mit den Zugängen dort zu tun. So gibt es erst 2008 mit Nurkan Erpulat, einen deutsch-türkischen Absolventen der Ernst-Busch-Regieschule. Das ist im alten Westen kaum anders, nach 50 Jahren Migration aus Anatolien.
In der Beschränkung auf die migrantische Herkunft, die sie favorisieren, liegt aber auch die Gefahr einer Selbstethnisierung und -stigmatisierung?
Hhm. Schauen Sie sich die Jurys an, wie die besetzt sind und die die Fördergelder in Deutschland vergeben, Hauptstadtkulturfonds, Bundeskulturstiftung. Schauen Sie sich die künstlerischen Leitungen der Häuser an: Sie werden dort kaum sichtbare Minderheiten finden. Und solange dem so ist, scheint mir unser Weg auch ein richtiger. Langsam gibt es ein Umdenken in der Politik, aber die Kultur hinkt da noch hinterher.
Aber da sagen doch einige: Es kommt nicht auf die Herkunft oder den Migrationshintergrund an, sondern auf die künstlerische Kompetenz und ästhetische Qualität?
Das ist selbstverständlich so, aber derzeit eher ein Totschlagargument, um sich gewisse Themen vom Hals zu halten. Qualität kommt nicht vom Him- mel gefallen, sondern hat mit Förderung der vorhandenen Begabungen und Möglichkeiten zu tun.
Es gibt Polemiken, die das, was Sie hier machen, als „Gettokultur“ bezeichnen: sozialpädagogisch wertvoll, künstlerisch zu vernachlässigen?
Es gibt aber auch eine sehr engagierte Öffentlichkeit, die das, was wir hier tun, fast schon feiern. Und auch fair darüber berichten, wenn es mal einen schwächeren Abend gab, den es bei uns natürlich auch gibt. Schließlich experimentieren wir viel und das müssen wir auch weiterhin. Wir können uns nicht einfach an bereits eingeführtem Personal bedienen. Aber wir verzichten dabei bewusst auf Stücke, die so eine Art Striptease betreiben: exotische Migranten vom Rande der Gesellschaft, Opfer, Kleinkriminelle, Zwangsheirat, das nervt mich. Wir inszenieren kein Getto-Theater. Vieles dreht sich bei uns um die eher kleinen Dinge des Lebens. Dinge, die auch andere berühren, die keinen migrantischen Hintergrund haben und die sie auch kennen. Es sind ja auch nicht alle Alteingesessenen von Haus aus in die Gesellschaft integriert.
Zu Ihnen kommen auch Jugendliche aus der Nachbarschaft ins Theater. Sie bieten aber auch abstraktere Inszenierungen an. Wenn dieses Gespräch erscheint, wird am Abend zuvor „Nathan Messias“ von Zaimoglu/Senkel Premiere gehabt haben. Eine Klassikeradaption, der Nahe Osten, Großkonflikte, keine leichte Vorlage…?
Mit „Nathan Messias“ lehnen wir uns sicherlich ein wenig aus dem Fenster. Den Stoff hatte das Düsseldorfer Schauspielhaus in Auftrag gegeben, aber nicht zur Uraufführung gebracht. Zaimoglu/Senkel haben es sehr eigenwillig bearbeitet, frei nach Lessings „Nathan dem Weisen“. Islam, Christentum und Juden, alle drei Religionen kriegen bei Zaimoglu/Senkel ihr Fett ab. Es inszeniert Neco Celik, der selber gläubiger Moslem ist und zuvor schon bei „Schwarze Jungfrauen“ Regie führte. Es geht uns an dem Abend nicht um politische Korrektheit, sondern im besten Falle um eine tendenziöse und überraschende Interpretation. Feridun Zaimoglu nannte sich selber einmal einen „gläubigen Kommunisten“. Und mich, die ich ja von Haus aus eher Agnostikerin, eine Ungläubige bin, interessiert die künstlerische Auseinandersetzung um Menschen, die eine Religion wollen und brauchen.
Sie sind auch in der Städtepartnerschaft Istanbul-Berlin engagiert.
Da bekleide ich kein Amt, gehöre aber zu einer Handvoll Initiatorinnen des Forum Berlin-Istanbul. Dank des Goethe-Instituts und anderer werden wir im Rahmen der Städtepartnerschaft mit „Beyond-Belonging-Almanci!“ im Juni eine Woche mit Theatergastspielen und Filmvorführungen in Istanbul präsent sein. Zum ersten Mal werden wir als Deutschländer unser postmigrantisches Theater dort zeigen, darauf freuen wir uns sehr.
Sie müssen mit einem Minietat von 250.000 Euro auskommen. Wie geht das?
Das geht diese und die kommende Spielzeit. Aber dann muss etwas passieren. Wir hoffen, dass künftig in allen Institutionen migrantische Perspektiven vertreten sein werden. Das Ballhaus Naunynstraße kann ein Motor dafür sein. Ein Nurkan Erpulat trat erst bei uns auf und inszeniert nun in Linz für die Europäische Kulturhauptstadt und in Dresden. Mit „Jenseits bist du schwul oder Türke“ ist er auf Festivals in Bern und Duisburg vertreten. Für nächstes Jahr sind wir für ein Projekt mit der Ruhrtriennale im Gespräch. Also, da passiert schon was.