: Günstig für die Union
Wissenschaftlicher Beirat des Wirtschaftsministeriums löst neuen Streit um Beschränkung der Tarifautonomie aus
BERLIN taz ■ Für den Vorsitzenden der Bergbau-Gewerkschaft IG BCE, Hubertus Schmoldt, ist es ein „marktradikales Glaubensbekenntnis“ und ein Aufruf zum „Verfassungsbruch“. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) sieht sogar „das Ende der Tarifautonomie“ kommen. Mit seinem Gutachten „Tarifautonomie auf dem Prüfstand“ hat der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums einen neuen Streit um die Lockerung der Tarifbeziehungen ausgelöst. „Die Tarifautonomie heutiger Ausprägung ist nicht unantastbar“, sagte der Vorsitzende des Beirats, Wernhard Möschel, gestern bei der Vorstellung des Gutachtens in Berlin.
Der Beirat empfiehlt darin eine weit reichende Öffnung der Tarifautonomie. Das Gremium geht davon aus, dass das Tarifsystem angesichts der Zunahme der Arbeitslosigkeit „versagt“ habe. Es handele sich um ein „Kartell der Tarifpartner, die Löhne und Arbeitsbedingungen festlegen“, sagte der Finanzwissenschaftler Charles Blankart von der Berliner Humboldt-Universität. Die so ausgehandelten Löhne seien eine Ursache der hohen Arbeitslosigkeit. Das Gremium will die Tarifautonomie daher beschränken. „Die Betriebsversammlungen sollten ermächtigt werden, von Tarifverträgen abzuweichen“, sagte Möschel. Er räumte ein, dass dies einen „verhältnismäßig starken Eingriff“ darstelle. Daher sollten solche Abweichungen nur bei einer „breiten Zustimmung der Belegschaft“ möglich sein.
Um eine verfassungswidrige Regelung zu vermeiden, wollen die Wissenschaftler die Öffnung der Tarifverträge an Bedingungen, etwa den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit oder die Verhinderung von Entlassungen, knüpfen. Dafür soll das so genannte Günstigkeitsprinzip ausgedehnt werden. Nach diesem Prinzip sind Abweichungen vom Tarifvertrag schon jetzt zulässig, wenn dadurch der Arbeitnehmer besser gestellt wird. Allerdings wurde dies bisher nur auf materielle Verbesserungen – etwa eine Lohnerhöhung – bezogen. Der Beirat will diese Regelung ausweiten. Dabei könnte eine Beschäftigungsgarantie als „günstiger“ gelten als eine Lohnsenkung. Allerdings müsste eine solche Übereinkunft zwischen Betriebsversammlung und Arbeitgeber anschließend von jedem Arbeitnehmer individuell akzeptiert werden. Der Beiratsvorsitzende räumte in diesem Zusammenhang eine mögliche Benachteiligung der Arbeitnehmer ein. „Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass Belegschaften über den Tisch gezogen werden“, sagte Möschel. Eine Besserstellung durch Lohnverzicht solle daher nur dann zulässig sein, wenn der Arbeitgeber sonst zu einer betriebsbedingten Kündigung berechtigt wäre.
Wirtschaftsminister Clement wies den Vorstoß umgehend zurück. Für die Regierung stehe der Flächentarifvertrag „nicht zur Disposition“. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer warf dem Beirat vor, sich „trotz besseren Wissens über eindeutige verfassungsrechtliche Einwände“ hinwegzusetzen. Union und FDP setzen sich im Vermittlungsausschuss für eine Lockerung der Tarifautonomie ein (siehe Kasten). ANDREAS SPANNBAUER