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Archiv-Artikel

Unterwegs mit einer ausgedachten Frau

Ein abenteuerlicher Hin- und Rückreisebericht von der mehr oder weniger gelungenen Erstbesteigung des nackten Fleischbergs

Neulich war ich in unserer ausgedachten Stadt mit einer ausgedachten Frau auf ausgedachten Fahrrädern unterwegs, die ganzen ausgedachten Sachen in unserer Stadt besichtigen. In unserer ausgedachten Stadt gibt es sehr viel ausgedachtes Essen. Und meine ausgedachte Begleitung wurde schnell sehr hungrig.

Sie stoppte an jeder Ecke und stopfte so viel in sich rein, wie’s ging. Knödelsuppe, Pfannkuchen, Torte, Braten. Die ausgedachte Frau, von Anfang an nicht die schlankste, wurde immer dicker. Nach zwei Stunden brach das Fahrrad unter ihr zusammen, nach drei Stunden passte sie in keinen Bus mehr, nach vier Stunden gab es einen Unfall. Die Frau stieß mit einem Käfer, einem ausgedachten Auto, zusammen, der Käfer war danach kaputt. Nach sechs Stunden war die Frau größer als zwei Ochsen, und ich bekam es mit der Angst. Das war der Moment, in dem ich aus meinem Traum erwachte …

Ich saß in einem Biergarten auf einer Bank, und alles schien in bester Ordnung. Ich wollte mir auf den Traum ein Bier bestellen und ließ den Blick auf der Suche nach dem Ober schweifen. Da entdeckte ich links, auf derselben Bank, die ausgedachte Frau. „Aha“, dachte ich, „das hier ist so ein Traum, in dem man träumt aufzuwachen, aber in Wirklichkeit geht der Traum weiter.“

Die ausgedachte Frau war jetzt noch viel, viel größer als vorhin. Ein riesiger Fleischberg. Was aber noch schlimmer war: Sie hatte ihre Oberbekleidung ausgezogen und spielte mit ihren nackten, eisberggroßen Brüsten. „In Wirklichkeit“, sagte die ausgedachte Frau, „sind meine ungeheuren Brüste ein Radio. Siehst du, wenn ich an der linken Brustwarze drehe, verstelle ich den Sender. Drehe ich aber an der rechten, wird es lauter. Außerdem ist die rechte Warze eine Zeitmaschine.“ Sie hatte Recht. Aus dem Fleischradio tönte eine „Diskothek im WDR“-Sendung von 1972. Mal Sondock sagte gerade „He’s gonna step on you again“ an, den tollen Smash-Hit von John Kongos.

„Und was passiert, wenn ich deine Nasenspitze drücke“, fragte ich. „Das ist dann Kurzwelle“, war die spitze Antwort. „Ehrlich? Kurzwelle hört doch heute keiner mehr.“ – „Nur die Elite!“, sagte die Frau. Das wollte ich genauer wissen. Ich kletterte an dem Fleischberg hoch und drückte den weißen, spitzen Nasenknorpel. Sofort setzte Frequenzquietschen ein, und es wurde stockdunkel.

Erst suchte ich die Elite, dann den Lichtschalter. Als ich nach fünf Minuten beide nicht gefunden hatte, dachte ich: „Aha, das hier ist einer von diesen mehrschichtigen Albträumen, wo man den Schalter nicht findet. Gleich wird das Monster kommen und mich jagen. Das wird anstrengend.“ Also beschloss ich, endlich wirklich aufzuwachen. Als das nicht ging, schloss ich, dass ich vielleicht gar nicht schlief. Aber wenigstens war nun die fleischberggroße Frau verschwunden, auch wenn die ja nur ausgedacht war.

Zwei Wochen hockte ich so im Dunkeln, bis ich die Lösung hatte. Die Frau war gar nicht verschwunden, ich saß in ihr drin. Das heißt, der Fleischberg war meine Mutter, ich hockte in ihrem Uterus, und war noch gar nicht geboren. Nach vier Wochen hatte ich dafür auch die Erklärung: Im selben Moment, in dem ich auf die Nasenspitze gedrückt hatte, musste die ausgedachte Frau an der rechten Brustwarze herumgefummelt und mich dabei aus Versehen in der Zeit zurückkatapultiert haben, direkt in sie rein. Eine schöne Scheiße.

Ich ärgerte mich nicht nur, dass ich jetzt noch mal den ganzen Lebensmist (Kindergarten, Schulhofprügel, Kommunismus) wiederholen musste. Wirklich fertig machte mich, dass ich, weil ich noch nicht geboren war, weder eine Bankverbindung noch Steuernummer hatte. Das heißt: Ich weiß nicht, wie und ob ich das Honorar für diese kleine Geschichte hier jemals kriege. Das Geld aber brauche ich dringend. Ich werde schließlich den Psychiater bezahlen müssen, der meine Träume analysiert, wenn ich einmal erwachsen bin.

CHRISTIAN Y. SCHMIDT