: Trostnest aus Worten
TODESNÄHE Wunden zeigen – das zutiefst menschliche Krebsbuch des Regisseurs Christoph Schlingensief
VON DIRK KNIPPHALS
Menschen beginnen, mit sich selbst zu reden, sobald sie allein sind. Ein jeder kennt das. Man hält flammende Plädoyers, schimpft auf Teufel komm raus, umspielt Wunscherfüllungsfantasien. In der Erzählforschung stößt man hin und wieder auf die These, dass mit solchen inneren Monologen die gesamte Literatur anfange.
Der Theatermacher Christoph Schlingensief hatte in der Zeit, als bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert wurde, während solcher Monologe ein Diktiergerät mitlaufen. Er ist jemand, der es gewohnt ist, zu sprechen. Man weiß das von seiner Theaterarbeit und seinen öffentlichen Auftritten her. Teil seiner Probenarbeit sind wahre Wortschwallanfälle; ein sympathischer Berserker im Kampf mit sich und seinen Einfällen und dem Theater- oder Opernapparat. Und nun, allein mit sich und der Diagnose, hat er also in ein technisches Gerät gesprochen. Vor und nach der Operation, in der ihm der linke Lungenflügel herausgeschnitten wurde. In den Wochen der Chemotherapie. Und als der Krebs ein Dreivierteljahr später wiederkam (er konnte dann ein weiteres Mal geheilt werden).
„Tagebuch einer Krebserkrankung“ heißt das daraus resultierende Buch im Untertitel. Das trifft es nicht richtig. Eher handelt es sich um schriftlich festgehaltene Selbstgespräche. Man schwankt ziemlich beim Lesen. Stellenweise gehen sie einem sehr nah. Wirklich schlucken muss man in einer Szene, in der Schlingensief noch halb im Narkosewahn ein Kind schreien hört. „Und ich habe gedacht, o Gott, das Kind stirbt, dem geht’s auch so dreckig, das ist auch so traurig und verlassen und braucht Liebe. Ich habe gesagt, dann lasst doch das Kind leben und lasst mich sterben.“ 50 Seiten später berichtet er dann, wie Alexander Kluge anruft und ihn fragt: „Sie wissen schon, dass Sie dieses Kind selbst waren?“ Andere Szenen findet man so eindrücklich, dass man sie gerne genauer analysiert gelesen hätte, etwa als Schlingensief grübelt, ob seine Krebserkrankung etwas mit der „Todesmusik“ Wagners zu tun habe, der er bei seiner Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung zu nahe gekommen sei.
Zugleich hat man aber immer schnell einordnende Dramaturgien bei der Hand. Da hadert einer mit seinem Schicksal; wobei hier ein erstaunlich naiver Kinderglaube dazugehört und Schlingensief sich beinahe trotzig an liebem Gott, Jesus und Maria abarbeitet. Da versucht einer, sich in Todesnähe seiner selbst zu vergewissern und Trostnester aus Worten zu bauen; Schlingensief entwirft dazu Bilder von einem zukünftigen Leben in einem Haus am See. Da will einer durch Sprachproduktion dem Tod trotzen („Wer redet, ist nicht tot“, Benn). Und da kämpft einer den Kampf, das Schlimme auch noch rationalisieren zu müssen, um es aushalten zu können: „Ich hab den Tod gespürt. Er saß in mir. Ich habe gekämpft. Es werden wahrscheinlich noch einige Kämpfe folgen.“
Erpresste Nähe ist beim Lesen eher nicht das Problem; zumal Schlingensief im Körperlichen doch meist dezent bleibt. Aber man wird dieses „Schiffsbruch mit Zuschauer“-Gefühl nicht recht los. Man weiß ja: Solange er das alles sprechen kann, geht es ihm noch einigermaßen – ein Problem der Erzählperspektive, aber so genau will man über Konstruktionsprobleme gar nicht nachdenken. Irgendwann ertappt man sich dabei, nach den wahren Schrecken in den Räumen zwischen den Texten zu suchen. In den Stunden, von denen Schlingensief nur berichtet, dass er in ihnen in einem fort geweint habe. Oder in den Tagen der Chemo, an denen er keinen Eintrag macht.
Vielleicht schwankt man auch deshalb, weil man sehr auf Pathos eingestimmt ist. „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide“, lautet die berühmte Formel bei Goethe. Schlingensief kann, darin unserer getreulicher Stellvertreter, nicht immer wirklich sagen, wie er leidet. Er plappert. Er flüchtet sich in Sinnsprüche: „Ich habe die Wunde der Welt berührt, die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens.“ Aber er verstummt nicht. Und was man nach der Lektüre unbedingt bewundert, sind die Verve und die Kraft, sich nicht selbst zu zensieren, mit der er das Nicht-sagen-Können kompensiert. Gerade in seiner Nichtperfektion ist dies ein zutiefst menschliches Buch.
■ Christoph Schlingensief: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 256 Seiten, 18,95 Euro