Langohren für Weihnachtshasser

Die Marzipanspione waren auch schon da: Ein Rundgang durch die Britzer Marzipanmassenfabrik Lemke, die den wichtigsten Geschmack für Weihnachten liefert. Der bringt einen glatt zurück in die Zeit, als Märklinbahnen um den Tannenbaum kreisten

VON ANDREAS BECKER

Weihnachten mag man ablehnen, ja sogar hassen. Als materiell eingestellter Unchrist aber waren mir schon als Kind die Geschenke durchaus willkommen. Vor allem Süßigkeiten. Auch wenn ich immer schon vorher ganz genau wusste, dass ich wieder einen Turm aus drei Schachteln erhalten würde. Die Großpackung After Eight – ein Name, der meiner 101 Jahre alt gewordenen Oma, obwohl sie im Krieg heimlich BBC gehört hatte, kaum über die Lippen kam, bis ich die Uhr auf der dunkelgrünen Packung zeigte und ihr erklärte, dass beide Begriffe englisch seien – ein Schächtelchen mit Marzipanpralinen und, Krönung unterm Tannenbaum, ein echtes Lübecker Marzipanbrot.

Die anderen Geschenke waren relativ egal – ich kann mich auch kaum an eins erinnern. Manchmal musste ich theatralisch Überraschung vorgaukeln, wenn meine Mutter mir wieder einen Geldschein gegeben hatte, mit dem ich in der Stadt etwas kaufte, was dann eingepackt und bis zum 24sten versteckt wurde. Zur Tante konnte man dann sagen: wie toll, dass du genau diesen Tischtennisschläger besorgt hast oder genau diesen Güterwaggon für die Märklineisenbahn oder die neue Deep Purple In Rock in der gelben Govi-Plattenhülle.

Später blieb mir dann nichts anderes übrig, als auch die Marzipanbrote selbst zu kaufen. Die billigen schmeckten meist nicht und die teuren waren eigentlich zu teuer. Als ich dann Zivildienst im Lungenkrankenhaus machte, stahl ich mich manchmal fort von dem Krankenhausgelände, ging in den Supermarkt und klaute ein Marzipanbrot. Die hortete ich in der Schreibtischschublade, bis meine dicke Chefin irgendwann meine Schublade filzte und fragte, wie ich bei dem angeblich so niedrigen Zivilohn so viel Marzipan anhäufen konnte.

Dann kaufte ich lange kein Marzipan mehr. Bis ich bei einer Radtour durch entlegene Ecken von Neukölln auf die Marzipanfabrik Georg Lemke & Co in der Britzer Späthstraße stieß. Die Fabrik besitzt ein kleines Marzipanlädchen. Während nebenan große Lkw palettenweise mit Rohmarzipan, Persipan, Nugatcreme und anderen Leckereien bestückt werden, erwirbt man in dem Fabrikladen günstige 250-Gramm-Packungen reine Marzipanmasse. Lemkes verkauft außerdem die Produkte der Firmen, die sie mit Rohstoffen beliefern. Deshalb gibt’s hier auch riesige Tüten mit Gummibärchen, Gummihaifischen oder Ritter Sport Schokolade.

Beim Besuch ist Sven Hell, einer der heutigen Besitzer, allerdings ein wenig misstrauisch, denn vor Jahren hatten sich Marzipanspione als Journalisten ausgegeben. Der Konkurrenzkampf ist hart, es gibt etwa fünfzehn große Marzipanmassefabriken weltweit. Meist gehören sie multinationalen Lebensmittelkonzernen.

Doch als wir dann mit Fotografen in seinem Büro sitzen, verrät Herr Hell, warum man Geheimnisse hat. Bei der Marzipanherstellung wurde früher die Masse in großen, dampfbeheizten Kupferkesseln auf über hundert Grad gebracht. Arbeiter mussten die Masse regelmäßig von den Kesselwänden abkratzen, eine harte Arbeit. Dann entwickelte ein Hersteller eine Maschine mit verschlossenen Kesseln. Hier wird das Marzipan sofort vakuumverpackt. Dabei verliert es viel von seinen Aromen. Das wollten Lemkes nicht akzeptieren. Und so bastelten sie sich über Jahre ein Verfahren, das ohne Vakuum auskommt. Ich habe es gesehen, aber verrate nichts!

Als wir die Fabrik besichtigen, ist sowieso nicht so viel zu sehen oder zu schmecken. Man ist in der Woche vor Weihnachten schon in der Reinigungsphase. Die Produktion ruht, die Maschinen werden zerlegt und gewartet. Einen Tag später werden die knapp einhundert Arbeitskräfte, die im Dreischichtbetrieb arbeiten, ihre Weihnachtsfeier begehen. Wir sehen große Jutesäcke mit Mandeln aus Kalifornien und dem Mittelmeerraum. Daneben Haselnüsse und Aprikosenkerne, die braucht man für die Persipanherstellung.

Wir klappen einen großen Bottich auf, der bis oben hin voll mit Nugatcreme ist. Früher durfte der Angestellte hier schon mal mit dem Finger den Geschmack testen. Bei den heutigen Hygienebestimmungen leider unmöglich, sagt Herr Hell. Die einzigen, die regelmäßig probieren dürfen, sind die Laboranten von der Verkostung. Sollte der Geschmack einmal nicht den oberen von vier Geschmacksstufen entsprechen, wird die Produktion gestoppt. Um spätere Regressforderungen auszuschließen, hebt man Pröbchen über ein halbes Jahr auf. Immerhin hat man anspruchsvolle Kunden. So sind die Mandelsplitter auf dem Magnum Mandel und auf dem Mandeleis von Schöller aus Britz. Man beliefert international, seit drei Jahren sogar nach Japan. Auch in Marzipancroissants und in Dresdener Stollen ist der Rohstoff von Lemke.

Beim Rundgang durch die Fabrik erklärt Herr Hell nüchtern die Produktion. Beim Blick auf ein leeres Band aber wird er doch prosaisch. Normalerweise laufe über dieses Band „ein ewiger Nugatstrom“. 1902 wurde die Firma von zwei Kreuzberger Apothekern gegründet, die keine Lust mehr hatten, nur Pillen herzustellen. Nach dem Krieg wechselt Lemke & Co vom Kreuzberger Hinterhof nach Britz. Ende der Sechziger wurden sie zu Europas größtem „Marzipanmassen“-Hersteller.

Während wir durch die duftende riesige Lagerhalle laufen, gibt Herr Hell noch einen guten Tipp. Lassen Sie sich nicht von dem Begriff Edelmarzipan täuschen. Dieses kann bis zu 50 Prozent mit Zucker gestreckt werden. Was zu einem Gesamtzuckergehalt von über 70 Prozent führt. Rohmarzipan dagegen enthält nur etwa ein Drittel Zucker.

Im Marzipanlädchen findet der Weihnachtshasser dann etwas Tolles. Neben einem Weihnachtsmann steht ein frischer Osterhase – ein prima Geschenk zum 24. Dezember.

Lemkes Marzipanlädchen, Späthstraße 31–32, 12359 Berlin, geöffnet Mo–Fr 9.30 bis 18, Sa bis 13.30 Uhr