: Schwierige Gefühlserbschaften
Etwa 100 Jahre umfasst das soziale Gedächtnis einer Gesellschaft – und jede Generation entscheidet neu, welche moralischen Bewertungen es enthält. Der Kulturkampf um „die 68er“ ist auch ein Streit um das emotionale Erbe des Nationalsozialismus
VON UTE SCHEUB
Vor kurzem war im Tagesspiegel ein Nachruf auf den Berliner Sonderschullehrer und „Achtundsechziger“ Rüdiger S. zu lesen. Der Vater des Verstorbenen, so hieß es da, sei als Staatssekretär des Innenministeriums einer jener 15 Funktionäre gewesen, die im Januar 1942 in der Wannsee-Konferenz die „Endlösung“ der Judenfrage beschlossen. Eine Spruchkammer stufte den Juristen später als „Mitläufer“ ein, und nachdem er 50.000 Mark Geldstrafe bezahlt hatte, war er ein freier Mann. Seine drei Söhne erlebten ihn als hart und autoritär und vor allem als: schweigend.
Sein jüngster Sohn Rüdiger wollte auf keinen Fall ins Militär. Er flüchtete nach Westberlin, studierte Soziologie, fuhr Taxi und demonstrierte gegen den Vietnamkrieg. Und bekam, trotz des widerständig schweigenden Vaters, nach und nach heraus, dass es noch einen vierten Sohn gegeben hatte, ein behindertes Kind, das Anfang der Vierzigerjahre in einer Klinik gestorben war. Ein Fall von Euthanasie? Rüdiger S. konnte es nicht beweisen, aber das Familiengeheimnis lastete wie ein Schuldspruch auf ihm. Er begann eine Ausbildung zum Sonderschullehrer und widmete sein Leben der Integration behinderter Kinder. Er arbeitete die Schuld seines Vaters ab, bis ihn der Krebs tötete. Für Rüdiger S. hatte der einen Namen: „mein Vater“.
Eine von unzähligen Familiengeschichten, die in der Summe die Ereignisse von 1968 und danach erst möglich machten. Der Psychoanalytiker Horst- Eberhard Richter hat in seiner Entgegnung auf Jan-Philipp Reemtsma in der taz vom 27. 10. 2004 auf Gefühlserbschaften aufmerksam gemacht, die auch in der RAF eine zentrale Rolle spielten. Die Eltern hatten die Chance zum bewaffneten Widerstand gegen die Nazis verpasst, also fantasierten ihre Kinder einen „faschistoiden“ oder gar „faschistischen Staat“ herbei, gegen den man mit der Waffe in der Hand kämpfen müsse. Aus Scham über das eigene Versagen während der Nazizeit hieß Birgit Hogefelds Vater indirekt das Tun seiner Tochter gut, sodass sie durchaus das Gefühl bekommen konnte, quasi in seinem Auftrag zu handeln. Ganz ähnlich war es auch schon in der Familie Ensslin zugegangen. Gudrun Ensslins Vater, ein schwäbischer Pfarrer, begann von der „heiligen Selbstverwirklichung dieses Menschenkindes“ zu schwärmen, nachdem die Tochter ein Kaufhaus in Brand gesteckt hatte.
Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar – „Das Ende des Schweigens? Auswirkungen traumatischer Kriegserfahrungen über mehrere Generationen“ – lernten rund hundert Teilnehmer vor kurzem die subversive Weise verstehen, mit der diese familiären Aufträge weitergegeben werden, an Kinder und Kindeskinder, „bis ins fünfte und sechste Glied“, wie es im „Exodus“ im Buch Mose heißt. Gefühlserbschaften werden meist ohne Worte, dafür aber mit der Sprache der Affekte weitergegeben, klärte die Psychologin Angela Moré ihr Publikum in einem Vortrag auf. Erschreckendes Abwehren bei bestimmten Themen, leere oder traurige Blicke, Seufzer – das alles kann sogar schon ein Baby verstehen. Kinder lernen auf diese Weise, dass Nachfragen strikt verboten ist. In den allermeisten Familien kamen Gespräche über die Nazizeit erst gar nicht zustande. Was dazu führte, dass die Fantasie der Kinder über mögliche Untaten ihrer Eltern ins Monströse wuchs, ihre Liebe und ihr Hass für ihre Eltern verstrickten sich unheilbar ineinander.
Im Tagungsraum herrschte eine dichte, konzentrierte, vertrauensvolle Stimmung, eine seltene Mischung von Anspannung und Entspannung. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer waren Kinder von Nazi-Tätern, mehr als die Hälfte waren Kinder von Vergewaltigungs- oder Vertreibungsopfern, was schon numerisch deutlich macht, dass es ein lupenreines Täter-Opfer-Schema nicht gibt und nicht geben kann.
Viele Lebensgeschichten wurden hier vielleicht zum ersten Mal erzählt, öffentlich oder im privaten Gespräch. Eine vielleicht Sechzigjährige berichtete von der Liebschaft ihrer Mutter mit Goebbels. Eine andere Frau erzählte, ihr Bruder habe ihre Mutter bei der Gestapo denunziert, und das Misstrauen in der eigenen Familie habe ihr mehr zu schaffen gemacht als die Fliegerangriffe. Zwei „68er“-Frauen bekannten sich, lange Zeit alle Männer für potenzielle Vergewaltiger gehalten zu haben – ihre Mütter waren auf der Flucht vergewaltigt worden. Der Vater der einen war SS-Mitglied gewesen, nach dem Krieg hatte er Karriere gemacht, ohne seinem eingefleischten Antisemitismus jemals abschwören zu müssen. Die Tochter weigerte sich, ihm zu verzeihen. Für sie war die Teilnahme an der Studenten- und Frauenbewegung von 1968 die gesellschaftliche Erlösung aus einem unlösbaren individuellen Familienkonflikt.
Doch für andere war die APO exakt das Gegenteil. Mit eisglitzerndem Hass in den Augen fuhr eine ältere Dame beim Mittagessen ebenjene Achtundsechzigerin an, sie hätte damals ihre Kinder vor den „aufhetzenden“ Reden der Studenten retten müssen. Wieso retten??? Sie, die eine traumatisierende Flucht und Vertreibung erlebt und den Vater verloren hatte, erlebte die Studenten offenbar wie die Wiederkehr der vergewaltigenden Bolschewiken. Ihr Antikommunismus war spürbar stärker und heftiger als ihr Antinazismus. Erst später gab sie zu, dass sie selbst BDM-Führerin gewesen war.
Mit der Haltung, „die 68er“ zu verdammen, um die eigene Faszination für Hitler & Konsorten zu verdecken, steht sie offensichtlich nicht allein. Als FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher den Produzenten des Films „Der Untergang“, Bernd Eichinger, interviewte und dabei beiläufig die „Achtundsechziger“ erwähnte, da explodierte Eichinger förmlich: „Ich verachte viele dieser so genannten 68er, weil sie verlogen bis in die Knochen waren, weil sie nur noch politische Phrasen gedroschen haben. Da ist nichts, aber auch gar nichts Gescheites dabei herausgekommen. Man sollte die Moral einfach rauslassen. Die Moral hat noch niemandem gut getan.“ Die 68er sind moralisch, und Moral ist überflüssig, sagt der Drehbuchautor eines Hitlerfilms.
Diesen von Eichinger erneut losgetretenen Kulturkampf sollte man bitter ernst nehmen. Jede Generation verhandelt neu, welche Fakten und welche moralischen Bewertungen das ihr eigene kollektive Gedächtnis enthalten sollte – darauf hat schon der französische Philosoph Maurice Halbwachs hingewiesen. In scharfer Abgrenzung zu dem Psychoanalytiker C. G. Jung, der an ein vererbtes kollektives Unbewusstes in der Menschheit glaubte, machte Halbwachs die soziale Konstruktion des Gedächtnisses deutlich. Er, der sein ganzes Leben den Orten des kollektiven Gedächtnisses widmete, starb tragischerweise selbst an einem Ort des kollektiven Gedächtnisses: im KZ Buchenwald. Das Gedächtnis eines Kollektivs umfasst nach Halbwachs ungefähr 80 bis 100 Jahre, denn nur dieser Zeitraum kann von zwei bis drei Generationen gemeinsam bewohnt werden. Das Traurige an der deutschen Situation aber ist das andauernde Scheitern des intergenerationellen Dialogs. Schon zwischen der ersten und der zweiten Generation kam kein Gespräch zustande, sei es, weil die Eltern bereits mit Blicken und Gesten jede Frage guillotinierten, sei es, weil der moralische Rigorismus der Kinder den sich schämenden Eltern den Mund verschloss. Nun erst, da die Tätergeneration ausstirbt – nach Zählung des Psychotherapeuten Hartmut Radebold leben bundesweit gerade mal noch rund 119.000 Männer über 90 Jahre –, fangen die Enkel zu fragen an. Doch die meisten treffen kein lebendiges Gegenüber mehr an: Täter, Opfer und Zeitzeugen sind tot.
Wenn die Enkel denn überhaupt fragen. „Unsere Großväter waren keine Mörder!“, unter dieser Parole marschierten Neonazis in München auf, als die Wehrmacht-Ausstellung eröffnet werden sollte. Auch der gruselige Aufschwung von Neonazi-Gruppen in der ehemaligen DDR erklärt sich zum Teil durch intergenerationelle Gefühlserbschaften. „Opa war in Ordnung“, so lautet die Losung vieler ostdeutscher Jugendlicher, voller Verachtung für ihre über Nacht vom Hitlerpimpf zum Antifaschisten gewendeten und fortan konsequent schweigenden Väter.
Das Schweigen gebiert jedoch nicht nur Neonazis, es gebiert auch schuldbeladene Neurotiker. Auf der Berliner Tagung „Folter und Humanität“, Anfang November, veranstaltet von den Ärzten zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), hielt Professor Peter Riedesser von der Universität Hamburg einen Vortrag über „traumatisierte Eltern und die Folgen für die Kinder“. Der „Schweigepakt“ habe zur Folge, dass Kinder nicht nur die Traumata der Eltern in sich aufnähmen, sondern auch die pathologische Verarbeitungsweise ihrer Eltern. Viele Kinder quälten sich mit Gedanken, sie seien selbst schuld daran, dass es ihren Eltern so schlecht ergehe.
Der Kinderpsychiater Riedesser sprach zwar von Opferkindern, doch für Täterkinder gilt Ähnliches, auch wenn der moralische Bezugsrahmen beider Gruppen selbstverständlich höchst unterschiedlich ist. Psychotherapeut Radebold riet deshalb den Betroffenen auf der Tagung in Hofgeismar, ihre Schuldgefühle in irgendeiner Form rituell an die Eltern zurückzugeben, auch wenn diese nicht mehr lebten. Man könne ihnen zum Beispiel einen Brief oder eine Art Schuldschein schreiben oder ihnen an ihrem Grab sagen, was man schon immer habe sagen wollen.
Vielleicht hätte der Ratschlag auch Rüdiger S. helfen können. Man weiß es nicht.