: Erwerbsarbeit kann nicht alles
Bei den Arbeitsmarktreformen folgen die Sozialdemokraten der populistischen These, an der Arbeitslosigkeit seien die Arbeitslosen schuld. Doch diese These ist falsch
4,4 Millionen Arbeitslose Ende 2003 – die Zahl zeigt an, dass die Strukturkrise des deutschen Arbeitsmarkts keineswegs überwunden ist. Angesichts des sich daraus ergebenden Legitimationsdrucks kann nicht verwundern, dass die Politik neue Reformprojekte in der Arbeitsmarktpolitik stets als Lösungen für das Problem Arbeitslosigkeit an sich präsentiert.
Im Zentrum der Arbeitsmarktpolitik – vom Mainzer Modell über das Job-AQTIV-Gesetz bis zur Hartz-Reform, die der Bundestag in der vergangenen Woche absegnetete – stehen dabei immer Leistungskürzungen für Arbeitslose einer- und die Verschärfung der Zumutbarkeiten zur Aufnahme von Arbeit andererseits. So wird die populistische These genährt, dass die Arbeitsmarktprobleme primär dem fehlenden Druck auf Arbeitslose zuzuschreiben seien.
Paradigmatisch für diese Logik waren die im Juli von SPD-Generalsekretär Olaf Scholz veröffentlichten „13 Thesen für die Umgestaltung des Sozialstaates und die Zukunft sozialdemokratischer Politik“. Hier wurde nicht ungeschickt der Versuch unternommen, angesichts der drohenden Handlungsunfähigkeit der Politik schon die Definition des Problems und der Lösungswege so zu fassen, dass sie auf die faktische Bewältigungskompetenz der politischen Akteure passen. So greift die Fokussierung des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsverständnisses auf Verteilungsfragen für Scholz zu kurz. Gerecht sei, „was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selber gerne gestalten möchten“.
Diese Selbstbestimmung sei aber nur durch „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ möglich, die wiederum nur durch Erwerbsarbeit erfolgen könne. Folglich sei „selbst schlecht bezahlte und unbequeme Erwerbsarbeit besser als transfergestützte Nichtarbeit“, zumal Arbeit die „wichtigste Quelle“ von „psychischer Stabilität und sozialer Identität“ sei. Da die Erwerbsarbeit all diese Funktionen leisten könne, sei es auch geradezu „ein Gebot der Gerechtigkeit“, dass Arbeitslose „prinzipiell zur Aufnahme jeder Erwerbstätigkeit bereit sein müssen“.
Der Kern dieser sozialdemokratischen „Theorie“ der Arbeit ist seit letzter Woche offizielle Staatsdoktrin und lautet: Jede Arbeit ist besser ist als keine! Das gilt selbst dann, wenn diese Arbeit für die Einzelnen in direktem Widerspruch zu jeder Möglichkeit der Selbstbestimmung steht, also ihrer – nach Scholz zugedachten – Bestimmung zuwiderläuft. Anders ausgedrückt: Der Wert der Arbeit ist so hoch, dass er die Entwertung sonstiger Lebenszusammenhänge rechtfertigt. Entsprechend hieß es auch im ursprünglichen Entwurf von Hartz IV, Absatz 13: Die „bisherigen Qualifikationen des Arbeitslosen, die Entfernung zur neuen Arbeitsstelle oder ungünstige Arbeitsbedingungen sind unerheblich“. Als „unerheblich“ gelten also: Die Qualifikation, die ein Mensch unter Einsatz von Zeit und vielfach verbunden mit persönlicher Identifikation erworben hat; die sozial-räumlichen Beziehungen, die ihr oder sein Leben zentral prägen; die Bedingungen von Arbeit/Entgelt, Arbeitszeit, Betriebsklima – also auch Aspekte, die in dieser Republik vor einigen Jahren noch unter dem Stichwort „Würde der Arbeit“ diskutiert wurden.
Die Scholz-Thesen sind signifikant für eine in der SPD verbreiteten Verdrängung der strukturellen Leistungsgrenze des Faktors Erwerbsarbeit, bezogen auf die Produktion gesellschaftlicher Teilhabe. Hier kommt ein erschreckender Mangel an Analyse- und Diskursbereitschaft zum Vorschein. Um diesen kollektiven Reflexionsstopp aufzubrechen, müsste sich die Einsicht Bahn brechen, dass hier vielfältig ideologische Phrasen nackte Realitäten der strukturellen Arbeitsmarktkrise verdecken:
1. Faktisch schafft Erwerbsarbeit nicht grenzenlosen Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe; sie produziert im Gegenteil massenhaft gesellschaftliche Exklusionen, weil sie in der Dienstleistungsgesellschaft zur Mangelware geworden ist.
2. Diese Funktionsschwäche kann nicht aufgehoben werden, indem die These von der integrativen Vergesellschaftungsfähigkeit der Erwerbsarbeit trotzig durch die Behauptung überboten wird, Arbeit sei auch noch Vollzugsorgan der Gerechtigkeit. Hier besteht in der SPD ein totalitäres Verständnis von Arbeit, das a priori Gerechtigkeit in Erwerbsarbeit manifestiert sieht.
Gerechtigkeit ist längst kein kritisches Instrumentarium zur Bewertung von angemessenen und gerechten Leistungs- und Entgeltregelung, von Verteilungsfragen der Erwerbsarbeit oder der in der Erwerbsarbeit zur Geltung kommenden Würde mehr. Anders gesagt: Gerechtigkeit als ein mit hoher Akzeptanz und normativer Geltung belegtes Gut, wird hier inhaltlich entleert und für die Legitimation eines unabweisbaren Zwangs zu jedweder Arbeitsaufnahme instrumentalisiert.
3. De facto ist Erwerbsarbeit durch Ambivalenz gekennzeichnet: Erst die Einkommenshöhe entscheidet darüber, ob diese Erwerbsarbeit wirklich Existenz sichernd ist oder nicht, was durch die gegenwärtig favorisierte Einrichtung eines Niedriglohnsektors immer fragwürdiger wird. Und ob Arbeit Respekt und Selbstrespekt, psychische Stabilität, Identität und Lebenssinn vermittelt, hängt eng mit den Faktoren zusammen, die – wie Qualifikation und konkrete Arbeitsverhältnisse – zukünftig als unerheblich gelten.
Zuzustimmen wäre, wenn innerhalb der SPD die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wirklich als das entscheidende Kriterium sozialer Gerechtigkeit angesehen würde. Dann aber wären auch zivilgesellschaftliches Engagement, Nachbarschaftshilfe, Familien- und Sorgearbeit monetär daraufhin zu bewerten, wie sehr sie diesem Zweck dienen. Stattdessen unterliegt die These von der Gerechtigkeit durch Erwerbsarbeit dem Verdacht, bloß die „Reformpolitik“ rechtfertigen zu wollen. Denn diese setzt alles auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt bei gleichzeitiger Zerschlagung gewachsener Strukturen der Beschäftigungsförderung und aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Deren Instrumente, ob „ABM“ oder „Arbeit statt Sozialhilfe“ haben aber gezeigt, wie sehr es arbeitsmarktpolitisch notwendig ist, einen „Dritten Sektor“ von Arbeit jenseits von Markt und Staat zu etablieren. Dies ermöglicht tausenden von Menschen auch ohne Erwerbsarbeit gesellschaftliche Teilhabe. Wer – jenseits der Seriosität – die Strukturkrise des Arbeitsmarktes auf ein reines Vermittlungsproblem reduziert und Arbeitslosigkeit primär als individuelles Fehlverhalten der von Arbeitslosigkeit Betroffenen deutet, kann der Meinung sein, die Verschärfung von Zumutbarkeiten und die Kürzung von Transferzahlungen seien der Schlüssel zum Erfolg. Tatsächlich aber trägt er dazu bei, dass die Schere zwischen denen, die nichts, und jenen, die immer mehr haben, größer wird.
Angesichts dessen brauchen wir in der Tat einen umfassenderen Begriff von Gerechtigkeit – allerdings einen, der nicht dazu missbraucht wird, letztlich nur den umfassenden sozialpolitischen Rückzug rhetorisch wohlfeil zu legitimieren. UWE BECKER