: On the railroad
Die Liebe zur Märklin Eisenbahn
VON ANITA SIEGFRIED
Der Regionalexpress XR-132 erreicht das Dorf, verlangsamt die Fahrt. Schneewälle säumen die Gleise, stemmen sich gegen Böschungen und Stützmauern.
Die Warnlichtanlage bei der Bahnschranke fängt an zu blinken. Die Schlagbäume senken sich, fallen mit einem metallischen Klicken in die Haltegabel.
Nur wenige Autos sind unterwegs. Ein Schneeräumungsfahrzeug. Eine Polizeistreife mit Blaulicht, auf der Hauptstraße ist ein Range Rover frontal in einen BMW geschlittert.
Der Zug passiert die ersten Häuser. Die Kirche, der Wetterhahn auf der Turmspitze zeigt Ostwind an. Die Apotheke. Die Esso-Tankstelle. Die Filiale der Raiffeisenbank, vor dem Eingang schippt ein Straßenarbeiter im orangefarbenen Overall Schnee.
Das Verwaltungsgebäude der Kommunalbehörden, Flammen züngeln aus den geborstenen Fenstern im obersten Stockwerk. Schaulustige stehen hinter der Absperrung und schauen stumm zu, wie die Feuerwehr eine Leiter hoch kurbelt. Auf dem Schulhausplatz bewerfen sich Kinder mit Schneebällen.
Jetzt fährt der Zug in den Bahnhof ein. Stoppt auf Gleis 2. Die Glocke bimmelt. Die vier Waggons werden von der Lokomotive rückwärts auf ein Abstellgleis geschoben.
Matter Glanz liegt auf dem Firn. Ein Gleitschirmflieger fliegt konzentrische Kreise. Die Kabinen der Gondelbahn verlassen lautlos die Talstation, schweben über der Skipiste in die Höhe.
Fünf Skifahrer und zwei Snowboarder schwingen sich den Hang hinab.
Hoppla. Da ist ja einer abgerutscht. Dort hängt er in der beschneiten Föhre.
Herr Noll neigt sich nach vorn, krümmt sich über das Dorf, klaubt den Skifahrer aus dem knorrigen Astwerk und legt ihn in eine Plastikbox.
Er lauscht.
Ein leises Surren flicht sich in die Stille. Der Regen trommelt auf das Dachfenster. Im Wohnzimmer unten knarrt der Holzboden. Musik, die Schlusssequenz der TV-Serie. Das Signet des Werbefensters.
Hastige Schritte. Ein Schrank wird geöffnet. Klirren. Die Likörflaschen. Etwas wird auf den Salontisch gestellt, Glas auf Glas. Ein Husten.
Herr Noll zögert. Dann drückt er auf einen Knopf am Schaltpult. Überall gehen die Lichter an. Die Straßenbeleuchtung. Der Schriftzug „Holiday Inn“ über dem Eingang des Hotels. Das große rote „A“ der Apotheke. Die Flutlichter der Eisbahn, die Eisläufer werfen Schatten jetzt, vierfach. Der Schein in den Fenstern der Fachwerkhäuser. Die Bogenlampen über den Rangiergleisen.
Wie das knarrt und blinkt, wie das glüht und funkelt, da freut sich aber Herr Noll!
Mit einem geübten Handgriff koppelt er die Lokomotive ab, schiebt sie von Hand auf Gleis 1 und geht zum Wandregal. Es ist voll gestopft mit Taschenbüchern, Nippes und Plüschtieren.
Herr Noll hat seine Tochter vor einem halben Jahr zum letzten Mal gesehen.
Herr Noll denkt sich den Himmel über seiner Winterlandschaft porzellanblau. Er hat das Wort einmal in einem Buch gelesen, an dessen Titel er sich nicht erinnern kann.
Im untersten Fach liegt ein Stapel der letzten drei Jahrgänge Die Modelleisenbahn. Herr Noll bückt sich, hebt den Zeitschriftenstoß leicht an und zupft zielsicher ein Magazin hervor. Er blättert unschlüssig darin, blättert zurück, dann legt er es geöffnet auf das Rollfeld des Sportflugplatzes.
Shirley, 22, brünett, schenkt ihm ihr warmes Lächeln. Herr Noll setzt sich auf einen Hocker und dreht den Wechselstromschalter auf „Maximum“. Das Flügelsignal klappt hoch. Die Märklin fetzt los. Donnert über den Viadukt, braust die Bergflanke hoch, vorbei an schartigen Schluchten, vorbei an bemoosten Kuppen, flitzt durch den Mischwald und verschwindet im Kehrtunnel, schießt beim Bergdorf wieder heraus, fährt an schmucken Chalets vorbei und durch den verschneiten Tannenforst, am Lawinenkegel und am zugefrorenen Seelein vorbei, an der Kapelle und dem beim Bildstock VII des Kalvarienwegs auf dem glatten Eis zu Fall gekommenen Touristen vorbei, schießt über die Brücke beim Wasserfall am Unterstand für militärische Nutzfahrzeuge vorbei, die Rampe hinunter in die nächste Runde und immer weiter durch die bitterkalte Winternacht ohne Ende immer weiter.
Schatz!, klingt von unten die Stimme. Die „Tagesschau“!
Herr Noll lässt den Kopf auf den Tisch sinken, spürt die kühle Glätte der Resopalbeschichtung unter der Wange, die Lippen aufgestülpt, hört auch das Klicken der Bahnschranke, hört die Lokomotive durch den Bahnhof brettern.
Wie aus großer Tiefe leuchtet das Eisfeld. Herr Noll schließt die Augen. Shirley ertrinkt in einem Meer von Milchkaffee.
Vergeblich. Alles vergeblich.
Herr Noll steht auf, klappt das Heft zu und stellt den Hauptschalter auf Null. Die Lichter gehen aus.
Die Lok hält mitten im Tunnel an. Das Surren bricht ab, der Gleitschirmflieger trudelt im gelben Schein der Straßenlampe, dreht sich um die eigene Achse. Die Kabinen der Gondelbahn bleiben stehen.
Es hat aufgehört zu regnen. Vom Flur fällt ein fadendünner Streifen Licht auf den Boden. Herr Noll geht zur Tür, und während er im Dunkeln nach der Klinke tastet, nimmt er sich vor, heute Nacht über die Realisierung seines neuesten Vorhabens nachzudenken. Eine Beschneiungsanlage, direkt neben der Bergstation, aus deren Düsen der Schnee stieben wird, hoch aufschießen wird wie Gischt, zerstäuben und niederrieseln wird auf die Piste, auf Dächer, auf Straßen und Plätze, stetig und dicht und alles zuschneien wird ohne Ende.