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Archiv-Artikel

Mary die Weihnachtsgans (4)

Der kleine taz-Fortsetzungsroman zwischen den Jahren in fünf Folgen. Von Tim Ingold

Was bisher geschah: Die ausgebüxte Weihnachtsgans Mary erlebt am Heiligen Abend Schlimmeres als den Tod im Schlachthaus: Eine betrunkene Uschi Glas und Ralph Siegels neueste Kompositionen.

München war ohne Zweifel die grauenhafteste aller grauenhaften Städte, so grauenhaft, dass sich sogar die Hunde aufhängten. Mary wollte weg. Nachdem sie die Nacht in einem blau-weiß karierten Dixiklo verbracht hatte, stellte sie sich am nächsten Morgen an eine Autobahnauffahrt und versuchte zu trampen.

Nach einer Weile hielt ein riesiger Reisebus mit Hannoveraner Kennzeichen. Mary stieg dankbar ein und bemerkte zu spät, dass sie im Tourbus der Scorpions gelandet war. Klaus Meine und Rudolf Schenker spielten ein lustiges Kartenspiel, Mau-Mau mit Koksen. Wenn jemand eine Sieben ablegte, musste der andere zwei Nasen voll Koks nehmen, wenn er aber noch eine Sieben drauflegen konnte, musste der erste vier Nasen nehmen und so weiter. Der Busfahrer erzählte, dass die Scorpions am gestrigen Abend ein Weihnachtskonzert für die Münchener Schickeria gegeben hätten. Mary konnte es sich lebhaft vorstellen und musste sich spontan übergeben, was nicht schlimm war, da eh alles vollgekotzt war. „Hey! Hey, Gans!“ kreischte der zugekokste Meine quer durch den Bus. „Was hälst du von unserem neuen Album?“ – „Soll ich ehrlich sein?“ fragte Mary. Minuten später stand sie frierend auf einer Autobahnraststätte in den Kasseler Bergen und schwor sich, nie wieder ehrlich zu sein.

Schnell hielt Mary ihren Daumen wieder in den Wind, denn sie hatte nicht vor, an diesem Umschlagsplatz für schlechten Kaffee, eingeschweißte Labbersandwiches und Happy Weekend-Hefte ihr Dasein zu fristen. Ein rostiger VW-Bus hielt. Als Mary eingestiegen war, bemerkte sie, dass der Wagen bis unters Dach mit Sprengstoff, Kalschnikows und islamistischen Terroristen vollgestopft war. „Wir sind das Kommando Betontolle“, erklärte ein Gotteskrieger ungefragt. „Wir wollen Guido Knopp in die Luft sprengen!“ – „Wieso das denn?“ erkundigte sich Mary. „Weil er ein Freund der Juden ist!“ erwiderte der Mann. „Moment mal“, sagte Mary, „man kann Guido Knopp eine Menge nachsagen, zum Beispiel, dass er den schlechtesten Frisör der Welt habe, aber dass er ein Freund der Juden sei – ich weiß ja nicht“. Unter den Männern entspann sich eine wilde Diskussion auf Arabisch. „Ja gut, dann machen wir halt Urlaub auf Langeoog“, sagte der Terrorist schließlich.

Die freundlichen Extremisten nahmen die Gans in ihre illegale Gemeinschaft auf, und so kam es, dass Mary einen Großteil der Zeit zwischen den Jahren in einem Schullandheim auf Langeoog verbrachte. Dort vertrieben sich die bärtigen Männer die Zeit mit lustigen Spielen, zum Beispiel Dartpfeile auf Fotos von George W. Bush werfen, unmotiviert mit den Kalaschnikows in die Luft ballern, Tischtennis spielen, Todeslisten erstellen oder Klingeltöne downloaden. Auch gab’s immer lecker was zu essen, arabische Spezialitäten wie Gyros Pita oder Arabic Rollo. Was Mary weniger gut gefiel war, dass sie Kopftuch und Schleier tragen musste und den Schnabel zu halten hatte. Außerdem weigerte man sich standhaft, „Besorg‘s mir!“, die neue TV-Show mit Oliver Geißen anzuschauen, in der Pärchen im Studio offen über ihre sexuellen Vorlieben reden und anschließend vor Kamera und Saalpublikum den Beischlaf vollziehen. Mary konnte nicht umhin zu denken, dass dieser Männerverein gewaltige Probleme mit Frauen und mit Sexualität hatte.

Aber auch andere Gedanken beschäftigten Mary. Seit ihrer wundersamen Errettung vor dem drohenden Tod durch Enthauptung war sie ziellos durch Deutschland geirrt und hatte sich von Tierkadavern ernährt. Sollte das immer so weitergehen? Schließlich war sie eine Gans und kein Geier, auch wenn beides mit „G“ anfing. Auch bei den Terroristen wollte sie nicht ewig bleiben. Wer konnte schon wissen, ob sich die Brüder nicht irgendwann hoppladihopp in die Luft sprengten, ob nun aus Versehen oder in voller Absicht? Sie konnte sich Besseres vorstellen denn als die erste Selbstmordattentätergans in die Geschichte einzugehen.

Mary grübelte und grübelte. Dann, in der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember, schlich sie sich aus dem Schullandheim, klaute ein Motorboot und setzte zum Festland über. Mary hatte einen Plan.

Tim Ingold, Jahrgang 1974, lebt als freier Autor, Musiker und Journalist in Bremen. Als Vegetarier isst er keine Gänse.