: Frontalunterricht – jetzt am Whiteboard
ELEKTRONISCHE TAFELN Sie sind der letzte Schrei in Deutschlands Schulen, die interaktiven Whiteboards. Aber sie überfordern viele Lehrer
Wikipedia, YouTube, Twitter und Blogs verändern das Wissen der Menschen – und ihr Lernen. Die taz-Bildung beleuchtet in loser Folge das Lernen 2.0. Zuletzt zeigte Jagoda Marinic wie das Web 2.0 zum Pausenhof informellen Lernens wird. Klassische Seminare, Klassenzimmer und Hörsäle haben bald ausgedient (http://tiny.cc/marinic). Der erste Beitrag der Reihe stammte von Ulrich Klotz über die gesellschaftlichen Auswirkungen des Web 2.0 (http://tiny.cc/fxo3x). Danach schrieb Meike Laaff, wie Blogs zur Zukunft des Lernens werden (http://tiny.cc/N5Iqp). Es folgen Reportagen aus Laptop-Klassen, Porträts und Interviews mit Vordenkern des neuen Lernens. lernen2.0@taz.de.
AUS BERLIN TIMO HOFFMANN
Das soll sie also sein, die Schulklasse von morgen. In der Klasse 4c der Berliner Grundschule an der Bäke in Lichterfelde steht die Kreidetafel ausgemustert am Rand. Der Mittelpunkt des Lernens ist woanders. Wo früher die Tafel war, befindet sich nun ein interaktives Whiteboard.
Es ist etwas kleiner als eine herkömmliche Tafel und sieht aus wie ein großer flacher Computermonitor. Ein Projektor wirft von oben das Bild auf die weiße Oberfläche. Auf ihr kann man auf vielerlei Art schreiben, mit den Fingern oder speziellen Stiften. Aber man kann noch viel mehr – im Internet surfen, Bilder und Videos zeigen, Musik und Hörbücher abspielen. Eben alles, was ein Computer heutzutage so kann. Das interaktive Whiteboard ist Tafel, Tageslichtprojektor, Film- und Stereoanlage und digitale Bibliothek in einem.
Die Kinder lieben die E-Tafel. Sie kommen lieber nach vorne, um etwas daran zu schreiben. Selbst Forscher zeigen sich angetan, weil das Gerät veränderten Schülerinteressen Rechnung trägt: „Lehrer haben es mit einer Computerspiel-Generation zu tun“, sagt der Mainzer Medienpädagogik-Professor Stefan Aufenanger. „Deshalb sollen sie mit der Techniknutzung von Schülern mithalten.“
„Eine freche Lüge“
Damit tun sich allerdings nicht wenige Lehrer schwer. Während jüngere Pädagogen Whiteboards oft begeistert in ihren Unterricht einbauen, sind viele ältere technisch überfordert und skeptisch. Die Boards polarisieren. Kritiker der Digitaltafeln warnen vor frontalen Multimedia-Shows, hohen Kosten, Technikfetischismus und viel Aufwand bei der Stundenvorbereitung. Dass Whiteboards Zeit sparen, sei „eine freche Lüge“, schreibt ein Pauker auf einer Webseite. So ist der Tonfall der Diskussion.
Doch die Lawine, die ins Rollen gekommen ist, werden sie nicht aufhalten können. Die Whiteboards sind in der Pädagogikszene der letzte Schrei, wie die Händler von Bildungsmessen berichten. „Es ist der Wahnsinn, wie sich die Leute um die Dinger reißen“, verrät die Mitarbeiterin eines Whiteboard-Herstellers.
Nur drei bis vier Prozent der rund 40.000 allgemeinbildenden Schulen Deutschlands sind bislang mit Whiteboards ausgerüstet. So schätzt es Michael Hövel, Geschäftsführer des Anbieters Promethean. Das möchte er natürlich schnell ändern. Rund 20.000 Geräte würden in diesem Jahr bundesweit dazu kommen, sagt er. 2.000 bis 3.000 Euro kostet ein neues Board. In Großbritannien ist die Mehrzahl der Schulen bereits mit Computertafeln ausgerüstet – ebenso wie viele neuere deutsche Privatschulen. Doch eigentlich beginnt das bildungspolitische Experiment erst.
Die Möglichkeiten des Mediums sind zweifellos immens, insbesondere in visuellen Fächern wie Geografie, Mathematik und Kunst. Lehrer können das Tafelbild der vorigen Stunde wieder aufrufen und fortsetzen. In Kunst können sie Werke zeigen und verändern, in Mathe den Satz des Pythagoras verbildlichen. Beim Thema Werbung können Schüler Spots drehen und angucken. Kranken Schülern kann das Tafelbild per E-Mail nach Hause geschickt werden. Immer wieder schwärmen Lehrer von der Option, mit einer anderen Klasse im Ausland per Konferenz verbunden zu sein. Tatsächlich ausprobiert hat das aber noch keiner. „Wir sind noch weit davon entfernt, die Geräte ihren Möglichkeiten entsprechend zu nutzen“, sagt Jens Haase, Leiter der Bäke-Grundschule.
Wer in sein Büro geht, muss an einer Urkunde vorbei, auf der ihm der Berliner Senat zur ersten staatlichen „kreidefreien Schule“ der Stadt gratuliert. Seit Haase Kreidetafeln verbannt und in jeden Raum ein Whiteboard gestellt hat, ist seine Schule bundesweit bekannt. „Für mich war klar: Es kann keine Mischlösung geben“, sagt er. Den Lehrern die Wahl zwischen Kreidetafel und Whiteboard zu lassen, hätte ihnen ermöglicht, „sich vor den neuen Geräten zu drücken“. Er habe eine „Frontenbildung im Kollegium“ vermeiden wollen. Doch auch diese radikale Einführung sorgte für Unmut. Einige Ältere ignorieren die Möglichkeiten des Whiteboards einfach –– und nutzen sie wie eine traditionelle Tafel. „Die Älteren kommen mit der Technik einfach nicht zurecht“, sagt ein Mitglied des Kollegiums. Der Hintergrund ist simpel: In der Jobwelt gehören Computer zwar seit Jahren zum Alltag. Lehrer über Mitte 40 haben Maus und Monitor hingegen oft noch nie benutzt. Sechs von zehn deutschen Paukern sind über 45.
Kernspaltung an der Tafel
Lehrerin Jessica Döhler steht in der 4c der Bäke-Schule, Thema in Sachkunde ist Energie. Sie schreibt auf das Whiteboard zunächst wie auf eine Tafel: „Energie ist nötig, um …“ Eine Schülerin ergänzt darauf „… Licht zu erzeugen.“ Ein Junge hält ein Referat über Uran und zeigt dazu etwas, was an einer normalen Tafel unmöglich wäre: Bilder aus dem Internet, das Symbol für Radioaktivität, ein Atomkraftwerk-Foto, eine Videoanimation einer Kernspaltung. Die Stunde endet mit einem Computerspiel auf dem Board. Die Pädagogin hat es beim Googeln auf der Seite eines Energieverbands gefunden.
Das ist eine der Herausforderungen der E-Tafeln: Unterrichtsmaterial ist rar. Es gibt erst wenige Webplattformen zum Austausch. Mitarbeiter des Bildungsmedienverlags Cornelsen sitzen deshalb mit in der 4c. Die Eindrücke sollen ihnen helfen, weiteres Material für Digitaltafeln zu entwickeln.
Auch andere Startprobleme gilt es noch zu beheben. Bislang können noch nicht mehrere Kinder gleichzeitig am Board schreiben. Kommt ein Kind aus Versehen an die Oberfläche, verschwindet manchmal das Bild. Erstklässler können sich beim Schreiben eine falsche Haltung angewöhnen, weil das Gerät auch auf die Handunterfläche reagiert. Die größte Herausforderung ist jedoch der didaktische Einsatz. Besonders ein Argument hat Whiteboards in Verruf gebracht: „Grundsätzlich sind sie sehr stark auf Frontalunterricht ausgerichtet“, sagt Bildungsforscher Aufenanger. Dennoch befürwortet er ihre Verwendung. Entscheidend sei die Lernkultur. Die Geräte könnten auch zur Präsentation von Gruppenarbeit genutzt werden.
Jens Haase, Leiter der Bäke- Grundschule
Doch solche methodischen Möglichkeiten müssen viele Lehrer bislang allein herausfinden. Die Hersteller bieten Schulungen an, aber diese sind von unterschiedlicher Qualität. Teilweise beschäftigen sie sich nur mit der Technik. Länder wie Berlin bieten keine Fortbildungen an, wie Nikolai Neufert, Senatsreferent für IT in Schulen bestätigt. Er verweist auf die Einführungen der Vertriebsfirmen. Das Vertrauen des Senats in diese ist offenbar groß. Denn Neufert räumt ein, Whiteboards führten zu Nachteilen für den Unterricht, „wenn eine klare methodisch-didaktische Konzeption fehlt“. Bei entsprechender Nachfrage durch Lehrer werde der Senat allerdings „unverzüglich“ Fortbildungen in die Wege leiten. Schulleiter Haase sagt trocken: „Ich würde mir mehr Schulungen wünschen.“
Hamburg ist da schon weiter. Das Landesinstitut für Lehrerbildung bietet neben Einführungen auch Whiteboard-Seminare an. In fünf Sitzungen à drei Stunden werden Unterrichtsentwicklung und individualisiertes Lernen behandelt. „Uns geht es nicht um Technik“, sagt Michael Weißer, Medienpädagoge des Instituts, „sondern um eine sinnvolle Einbindung des Whiteboards in den Unterricht – aber auch nur dann, wenn dieser es erfordert.“ Zudem fördert die Stadt den Austausch von Lehrmaterial mit einem Whiteboard-Forum im Web.
Das Vorgehen fußt auf einer Untersuchung von 2006. Das Landesinstitut evaluierte, wie sich jeweils zwei bis sechs Boards in 39 Schulen auf den Unterricht auswirkten. 85 Prozent der Lehrer und Schüler bewerteten das Medium positiv. Sie lobten die Möglichkeit, Zusammenhänge besser aufzeigen und anschaulicher gestalten zu können. Es zeigte sich jedoch auch, dass ein einzelnes Board nicht für Übungsphasen geeignet ist und lange Einarbeitung nötig. Schüler erhielten oft keinen Zugriff auf Unterrichtsdateien. Inzwischen ist Hamburg eines der führenden Länder beim Einsatz von E-Tafeln. 75 Schulen sind ausgerüstet. Bis 2011 sollen in allen 351 Staatsschulen drei bis sieben Boards stehen.
140 Jahre Kreidezeit
Medienpädagoge Aufenanger sieht auch die Lehrplankommissionen der Länder in der Pflicht. Sie sollten didaktische Vorgaben für Whiteboards festlegen. Von Fachzeitschriften wie Praxis Deutsch oder Kunst + Unterricht wünscht er sich praktische Vorschläge. Aber Aufenanger rät auch zu Geduld: „Man muss bedenken, dass die alte Tafel 140 Jahre lang Standard war. Das braucht Zeit.“
Doch das angeblich nächste große Ding fürs Klassenzimmer drängt bereits auf den Markt. Fachleute bestaunen ein Tischboard mit Multitouch-Funktion. Mehrere Kinder können darauf gleichzeitig schreiben und digitale Objekte bewegen. Vorteil: Es eignet sich auch für Übungsphasen und Gruppenarbeit. 2010 soll es in Deutschland erhältlich sein. Genug Zeit also noch für den einen oder anderen Lehrer, bis dahin ein paar Nachhilfestunden in Sachen Computer zu nehmen.