: Der Gewinner von Köln (II)
Samstagabend läuft wieder „Wer wird Millionär?“ (RTL, 20.15 Uhr). Man kann dort auch gewinnen, wenn man schon verloren hat. Der zweite Teil einer wahren Geschichte
VON STEFAN KUZMANY
Was bisher geschah: Sie waren gerade Kandidat bei „Wer wird Millionär?“ – und haben versagt. Das ist jetzt ungefähr vier Stunden und etwa fünfzehn Glas Kölsch her. Sie sitzen mit den anderen Verlierern an der Bar des Mediahotels in Köln Hürth. Und dann kommt Ihr Kandidatenbetreuer.
Sie wollen diesen Tag vergessen. Sie wollen nicht mehr darüber reden, wie aufregend das alles heute Abend gewesen ist. Oder was Sie alles gewusst hätten, wenn man Sie nur gefragt hätte. Oder was Sie mit dem Geld gemacht hätten, das die sympathische Drogeriemarktkassiererin aus Laufach bei Aschaffenburg gewonnen hat.
Hinter Ihnen hebt gerade einer der Verlierer zu einer Tirade an. Gegen die anderen Kandidaten, die alle viel dümmer seien als er. Und gegen RTL und Endemol und die Sendung „Wer wird Millionär?“. Für die sind wir doch nur Menschenmaterial, sagt er.
Niklas Mertens, Ihr Kandidatenbetreuer, nippt an seinem Weißbier und lächelt nur. Eigentlich kommt er nie zu den Kandidaten ins Hotel. Er ist nur hier, weil Sie Ihren Geldbeutel in der Garderobe vergessen haben. Sie wollen sich dankbar zeigen. Sie wollen kein schlechter Verlierer sein. Nicht jammern. Also fragen Sie Niklas Mertens, was Sie ihn fragen wollten, seit sie ihn das erste Mal gesehen haben, was Sie ihn längst gefragt hätten, wenn Ihr Kopf nicht voll gewesen wäre mit der Gier nach einer echten Million Euro: „Wie kommt es, dass einer, der Niklas Mertens heißt, so aussieht wie Sie?“
Eine dumme, möglicherweise rassistisch misszuverstehende Frage, gewiss, aber nahe liegend angesichts dieses dunklen Gesichtes, und es ist schon sehr spät, der Barkeeper bringt doch noch ein weiteres Kölsch, und Niklas Mertens nimmt die Frage nicht übel, er scheint dumme Fragen zu seiner Person gewöhnt und sagt: „Ich weiß nicht, wo ich geboren bin. Ich weiß nicht, wann ich geboren bin. Ich weiß auch nicht, wer meine Eltern sind.“ Und während der Mann hinter Ihnen weiter schimpft, erzählt Niklas Mertens seine Geschichte. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er in einem Waisenhaus in Bombay, Indien. Seine leiblichen Eltern sind wohl eines gewaltsamen Todes gestorben. Zwar weiß Mertens auch das nicht genau, aber es ist sehr wahrscheinlich: Seine Trommelfelle haben Löcher, und das kommt wohl daher, dass er als Kleinkind eine Explosion erlebt hat. Er hat sie überlebt. Da hatte Niklas Mertens das erste Mal gewonnen.
Seinen zweiten Sieg errang Mertens im Waisenhaus von Bombay. Die Frauen, die sich um die Waisen kümmerten, suchten ein Kind aus, das von einem deutschen Paar adoptiert werden sollte. Sie suchten ihn aus. „Das war mein Joker“, sagt Niklas Mertens. Und als er am Weihnachtstag 1979 am Flughafen von Frankfurt am Main landete und dort von seinen Adoptiveltern abgeholt wurde, da bahnte sich sein dritter Sieg an. Denn das Ehepaar Mertens, so stellte sich heraus, war in der Lage, seinen neuen Sohn unter besten Bedingungen aufwachsen zu lassen: beide Juristen, wohnhaft in München-Schwabing, materielle Sorgen gab es keine. Als Mertens nach Deutschland kam, war er etwa drei Jahre alt, und sein Verhalten ließ auf die bittere Armut schließen, die er als Kleinkind erlebt hatte. Im ersten halben Jahr konnte er nur auf dem Boden schlafen, eine Matratze war ihm zu weich. Nach dem Essen kroch der Dreijährige unter dem Tisch herum und sammelte herabgefallene Reiskörner auf – nichts sollte verloren gehen.
Die anderen Kandidaten verlassen die Bar, zwei lassen ihre Zeche auf „den Herrn Jauch“ schreiben, mit einem Seitenblick auf Mertens, der nimmt es gleichmütig zur Kenntnis, obwohl er viel später, beim Bezahlen, sagt: „Alle denken, ich bin der Herr Jauch – ich bin aber nicht der Herr Jauch.“ Und dann erzählt er davon, dass viele Menschen, mit denen er zu tun hat, ihn für einen beschränkten Ausländer halten. Aber Mertens ärgert sich nicht, er hat seine Methode, damit umzugehen: „Meine Sprache ist meine Waffe.“
Einmal hat ihm das nichts genützt, denn er bekam keine Chance, seine Waffe einzusetzen. Er war noch ein Schüler, wartete mit Freunden vor der Schwimmhalle des Oskar-von-Miller-Gymnasiums in München-Schwabing auf einen weiteren Freund, nur 500 Meter vom Elternhaus entfernt, da hielt plötzlich ein Auto. Der Fahrer hatte es so eilig, auf ihn loszugehen, dass er nicht die Türe benützte, sondern aus dem Fenster sprang. Der Mann würgte Mertens, hatte ein Messer in der Hand, beschimpfte ihn: „Scheiß Nigger! Scheiß Kaffer! Du bist kein Deutscher!“ Mertens hatte Glück. Eine Passantin, die den Angriff beobachtete, rief die Polizei. Im Gerichtssaal errang Mertens seinen nächsten Sieg. Er sah den Täter nur an, stumm, bis der Mann weinte.
Mertens erzählt, wie es ihn schon immer in die Medienbranche gedrängt hat, wie er wenige Tage vor seinem Abitur einfach bei ProSiebenSat.1 in München-Unterföhring aufgetaucht ist, weil er den Namen einer wichtigen Frau in der Programmabteilung kannte, wie er vor dem Aufzug stand und den Knopf nach ganz oben gedrückt hat, denn dort wollte er hin, wie er tatsächlich einen Termin bekam bei dieser wichtigen Frau und dann einen Job in der Sportredaktion, dann für „Taff“ gearbeitet hat und „Arabella“, für „Herzblatt“ und später für die Sportsendung „ran“, wie er zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen ist, wie ihn Mehmet Scholl zu FC-Bayern-Partys eingeladen hat und Robbie Williams persönlich zum Konzert. Mit Beckenbauer stand er am Pissoir. Und einmal diskutierte er sogar mit Stephen Hawking über den Kosmos.
Die Kandidaten bei „Wer wird Millionär?“ wünschen sich ein Auto oder ein Reihenhaus. Niklas Mertens hat andere Wünsche. Als seine erste große Liebe zerbrach, da verlor er den Glauben an den Sinn des Lebens. Mertens sagt, er sei damals dem Teufel begegnet. In dieser Situation hat Mertens begonnen, sich mit Religion zu beschäftigen. Er las über Buddha, er versuchte, einen Glauben zu finden. Er suchte sein Ziel.
Niklas Mertens hat sein Ziel gefunden: Er will das Gute zurückgeben, das er selbst erfahren hat. Sein Ziel ist es, in Indien ein Waisenhaus zu bauen. „Darum bin ich bei den Medien“, sagt Mertens. Darum sucht er die Nähe zu Erfolgsmenschen, Leuten, die so reich sind, dass sie etwas von ihrem Reichtum abgeben können für einen guten Zweck. Und er will selbst viel Geld verdienen. Er hat ein Konzept für eine TV-Sendung entwickelt, sie hat mit der Fußball-WM 2006 in Deutschland zu tun. Tatsächlich sieht es so aus, als könne er seine Idee realisieren. Und später das Waisenhaus in Indien.
Niklas Mertens verabschiedet sich von Ihnen. Er muss morgen früh ins Büro.
Und wenn Sie dann am nächsten Tag wieder im Zug sitzen, Richtung Heimat, verkatert, und über Joker und Glück und Geld nachdenken, dann ist es tatsächlich nicht so schlimm, dass Sie verloren haben.
Wer hat eigentlich in Köln den Jackpot gewonnen?