: Antirassistischer Online-Protest vor Gericht
Anklage wegen Nötigung: Nach einer Online-Demo gegen die Lufthansa-Abschiebepraxis droht erstmals ein juristisches Nachspiel
BERLIN taz ■ Zum ersten Mal in der deutschen Justizgeschichte droht einem Organisator einer Online-Demonstration eine Geldstrafe. Aus Protest gegen die Abschiebepraxis der Lufthansa hatten im Juni 2001 nach einem Aufruf der antirassistischen Netzwerke „kein mensch ist illegal“ und „Libertad!“ rund 13.000 Internetnutzer die Homepage der Fluggesellschaft für mehrere Stunden lahm gelegt. Libertad!-Mitglied Andreas Vogel, der die Aktion angemeldet hat, muss sich nun vor dem Amtsgericht Frankfurt wegen Nötigung und Aufruf zur Nötigung verantworten. Im Falle einer Verurteilung würde ein Präzedenzfall geschaffen, der künftige Online-Proteste erschweren könnte.
„Das ist absolutes Neuland“, sagte Vogels Verteidiger Thomas Scherzfeld. „Und es ist sehr fraglich, ob so etwas überhaupt Nötigung sein kann.“ Zur Nötigung gehöre immer die Verwerflichkeit der Tat, um strafbar zu sein. Wenn so viele Organisationen und Persönlichkeiten gegen die Abschiebepraxis in der BRD protestieren und diese für unmenschlich halten, sei es sehr fraglich, ob dies der Fall sein könnte.
Kurioserweise hatten BKA und das Justizministerium im Vorfeld der öffentlich angekündigten und angemeldeten Demonstration keine juristischen Möglichkeiten gesehen, gegen die Aufrufer vorzugehen, weil sie keine Straftat erkennen konnten. Um Ermittlungen aufzunehmen, bedurfte es erst einer Anzeige der Lufthansa im Sommer 2001. Von den Vorwürfen Computersabotage, Datenveränderung und Nötigung, die gegen Vogel erhoben wurden, mussten im Verlauf der Ermittlungen die beiden ersten Punkte wieder fallengelassen werden, da sie mit der Aktion nichts zu tun hatten.
Inzwischen hat auch die Lufthansa offenbar das Interesse an dem Fall verloren. „Der Fall interessiert uns nicht mehr besonders, aber wir freuen uns trotzdem, dass es zu einer Anklage gekommen ist“, sagte Lufthansasprecher Thomas Jachnow. Für ihn handelte es sich bei den Online-Protesten um eine „reine Diffamierungskampagne“ unseriöser AktivistInnen. Eine „politische Verantwortung“ der Lufthansa sehe er nicht.
Für Andreas Vogel und seinen Anwalt bietet der Prozess jedoch die Gelegenheit, das Abschiebegeschäft der Lufthansa und Online-Proteste noch einmal in die Öffentlichkeit zu bringen. „Die Abschiebepraxis der Lufthansa hat sich nicht wesentlich geändert. Die Fluggesellschaft versucht auch über Tochterfirmen, die nicht mehr den Namen Lufthansa tragen, vermehrt Abschiebungen abzuwickeln“, sagte Vogel.
Im Verfahren wolle man die Verwerflichkeitsprüfung dazu nutzen, um Zeugen und Sachverständige zu laden, die über die Abschiebepraxis Auskunft geben, kündigte Vogels Verteidiger Scherzberg an. „So können wir die politischen Inhalte wieder in die Öffentlichkeit tragen.“
Nach eigenen Angaben von April 2000 schiebt die Lufthansa jährlich etwa 10.000 abgelehnte AsylbewerberInnen mit Linienflügen ab. Neuere Zahlen wollte Lufthansa-Sprecher Thomas Jachnow gestern gegenüber der taz nicht nennen. ANNE BECKER