: Die Vision bleibt bestehen
VON HILAL SEZGIN
Es gab einen Zeitpunkt, da ich von den Fragen, „woher mein Name komme“, so genervt war, dass ich mir schwor, beim nächsten Mal zu antworten, ich käme aus Irland. „Meine Familie heißt MacSezgin“, wollte ich sagen, „das Mac lass’ ich weg.“ Doch der Nächste, der es fragte, war Jürgen Habermas. Ich saß in seiner Sprechstunde, wollte meine Magisterarbeit bei ihm schreiben – er stand kurz vor der Emeritierung und wies alle neuen Kandidaten ab. Ich antwortete, dass mein Vater aus der Türkei stamme. Aus Gutmütigkeit nahm er mich schließlich an.
Bei früherer Gelegenheit hatte er uns Studenten erklärt, mit seiner Diskurstheorie habe er eine „positive, normative Theorie der Demokratie“ verfassen wollen; als Angehöriger jener Generation, die den Nationalsozialismus miterlebt habe, wisse er die heutige Demokratie besonders zu schätzen. Man könnte also sagen, die Habermas’sche Diskurstheorie entstand aus Dankbarkeit gegenüber der Bundesrepublik; sie ist Rechtfertigung wie Programm.
Immer wieder habe ich jene Worte hin und her gewendet: Dieses Programm ist anspruchsvoll, emanzipativ, visionär. Aber ist es fordernd genug? In der idealen Kommunikationsgemeinschaft der Diskurstheorie haben alle Platz, in den uns bekannten Demokratien nicht. Zwar haben normative Theorien wie die von Habermas das Prinzip Gleichheit so elementar in sich verankert, dass es sie gleichsam von selbst zum Fortschritt drängt; aber der starke Abstraktionsgrad schafft einen tröstlichen Puffer, wenn der Fortschritt nur schneckenhaft vor sich geht.
Auch sechzig Jahre nach Geburt des Grundgesetzes gibt es für Migranten keinen Doppelpass und kein Wahlrecht; man kann nicht sagen, dass dieser Umstand Habermasianer hochgradig irritiert. Die Bewegung kommt ins Stocken, die Vision bleibt bestehen. Mit keiner anderen Theorie lässt sich der Ausschluss einiger aus dem Diskurs „aller“ treffender als schmerzliches Demokratiedefizit kritisieren.
HILAL SEZGIN, 39, deutsche Schriftstellerin, Philosophin und Journalistin, lebt in der Lüneburger Heide