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Der Terror macht Kleinstaat

AUS NALTSCHIK KLAUS-HELGE DONATH

Rassul Zakojew schleppte sich von der Müllhalde, wo man ihn aus dem Wagen geworfen hatte, mit letzter Kraft nach Hause. Tagelang hatten seine Eltern nach ihm gesucht. Vergebens.

Auch die Behörden gaben keine Auskunft. Es hieß, Rassul könnte in die Fänge des 6. Dezernats des Innenministeriums geraten sein, das für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen und religiösen Extremismus in Naltschik, der Hauptstadt der nordkaukasischen Republik Kabardino-Balkarien (KB), zuständig ist. Rassul war kräftig, Mitte zwanzig, ein Boxer mit Sportlehrerdiplom. Drei Tage nach seiner Rückkehr starb er an Schädeltrauma, Leber-, Nieren- und Lungenversagen durch gezielte Schläge.

Zweitausend Menschen versammelten sich nach dem Mord spontan im Zentrum Naltschiks. Rassuls Vater, Dschamal Zakojew, bat die Menge, sich friedlich aufzulösen. Gewalt würde den Sicherheitsorganen, in deren Reihen die Täter vermutet werden, im Nachhinein noch eine Rechtfertigung der Tat liefern.

Kabardino-Balkarien ist eine autonome Republik in der russischen Föderation. Der Kleinstaat macht einen fast verträumten Eindruck. Schweiz des Kaukasus nennen die Einwohner ihr Land am Nordhang der Gebirgskette, der hier bis zum Elbrus, Europas höchstem Gipfel, hinaufsteigt. Ewiges Eis, kristallklare Quellen, sattes Grün und Obstbäume machten die Republik, die etwas kleiner ist als Schleswig-Holstein, zu einem Urlaubsparadies.

Seit Moskau vor zehn Jahren den ersten Feldzug gegen Tschetschenien begann, meiden Touristen die Region. Noch bevor tschetschenische Terroristen außerhalb des Kriegsgebietes Attentate verübten, entdeckte die Führung der Republik ihre Chance, wenn sie den Vorreiter beim Kampf gegen islamistischen Extremismus spielt. Der russische Geheimdienst FSB und das 6. Dezernat bildeten die Vorhut, aber auch Staatsanwaltschaft und Steuerpolizei gründeten Abteilungen zur Bekämpfung religiöser Fanatiker. Zwischen 1991 und 1998 soll allein die Zahl der Milizionäre von 1.800 auf 10.000 gestiegen sein. Ein teures Unternehmen. Die Mittel dafür müssen in Moskau, das den Haushalt der Republik zu 80 Prozent finanziert, erst einmal losgeeist werden. Da ist jeder „Terrorist“ willkommen. Also warnte der kabardino-balkarische Präsident Walerij Kokow vor 400 Wahhabiten und einem gewaltbereiten Umfeld, auch wenn das Innenministerium intern nur von einem guten Dutzend Gewalttäter ausging. Doch Kokow schmetterte, 3.600 Kämpfer warteten nur darauf, „jedem in die Stirn zu schießen, der versucht, die Republik anzukratzen“. Ende Dezember gab der Innenminister in Naltschik die Gründung einer weiteren 300 Mann starken Antiterrortruppe bekannt.

Die Jobs in den Sicherheitsorganen sind begehrt. Obwohl mit nur 200 Dollar Vergütung im Monat, werden mittlere Posten mit 50.000 Dollar gehandelt, behauptet ein entlassener Geheimdienstler, wegen des „Nebenverdiensts“. Eine Stellung im Staatsdienst erleichtert private Geschäfte und garantiert Profit aus dem Handel mit staatlichen Genehmigungen. Auch Drogen scheinen im Spiel zu sein. Seit Ausbruch des Kaukasuskrieges hat sich die Bergrepublik zu einem Umschlagplatz für Drogen und Waffen entwickelt.

Muslime unter Verdacht

Etwas über die Hälfte der 800.000 Einwohner sind Muslime. Sie wurden lange vom Geistlichen Rat der Muslime (GRM) als einziger religiöser Autorität repräsentiert. Originaltexte des Islam waren zu Zeiten des Kommunismus nicht zugänglich, und Geistlichen erhielt keine fundierte Ausbildung. Islam und lokale Sitten vermengten sich, und die Rolle des Imam schrumpfte auf die eines Zeremonienmeisters. Das ließ sich die Geistlichkeit großzügig honorieren, werfen junge Eiferer heute den Alten vor. Inzwischen sind die Muslime in KB gespalten. Ältere halten zur GRM, die den Regierenden näher steht, die jüngeren scharen sich um Mussa Mukoschew, den Emir, der in 40 „republikanischen Gemeinden“ über zehntausend Gläubige betreut. Seine Moschee und sechs weitere ließen die Behörden im August in Naltschik schließen.

Musste Rassul sterben, weil er ein gläubiger Muslim war? Sicherheitsbeamte schauten vor dem Tod regelmäßig in seinem Mobiltelefongeschäft vorbei. Den Eltern erzählte er nichts. Im Haus der Zakojews stehen noch Rassuls Bücher, darunter Literatur über Saudi-Arabien und ein Buch des iranischen Revolutionsführers Chomeini. Freunde und Eltern beteuern, Rassul sei kein Wahhabit gewesen. Und auch das 6. Dezernat schien das so zu sehen, denn Rassul Zakojew steht nicht auf der Liste der 430 Extremisten, die die Regierung im Lande ausfindig gemacht hat. Nach welchen Kriterien die Liste zusammengestellt ist, war von offizieller Seite nicht zu erfahren. Das Präsidialamt, die Pressestelle der Regierung, die Sprecher des Innenministeriums und des Inlandsgeheimdienstes sowie der Oberstaatsanwalt lehnten Interviews ab. Stattdessen hefteten sich acht Beschatter an unsere Fersen. Sie folgten uns auf den Markt, warteten im Hotel, auch ins Café, wo ein Treffen mit Ruslan Nachuschew vereinbart war, kamen sie mit.

Nachuschew steht oben auf jener Liste. Er könne sich darauf keinen Reim machen, sagt der 45-jährige Geschäftsmann. Er rauche und trinke, außerdem bete er nicht, wie es der Koran verlangt. Dessen Gebote respektiere er, ohne danach zu leben, sagt Nachuschew. Spätestens seit dem Tschetschenienkrieg müsse der Staat in der Religionspolitik klare Richtlinien entwerfen. Nachuschew ist Mitglied der Kremlpartei „Vereinigtes Russland“ und hat lange unter General Alexander Lebed gedient. Zu seinen Aufgaben gehörte auch, mit tschetschenischen Entführern Geiselfreilassungen auszuhandeln. „Was ich dort erlebt habe, möchte ich hier verhindern“, sagt er. Vor Jahren gründete Nachuschew ein Forschungsinstitut, das islamischen Traditionen ebenso nachspürt wie religiösen Fragen.

Die Spitzel haben im Café drei Tische weiter Platz genommen, eine Kamera im Anschlag. Nachuschew ist nervös. Wie alle Verdächtigen mit Listenplatz führt er ein Leben in der Halblegalität und wechselt regelmäßig den Aufenthaltsort.

Gefecht mit den Rebellen

Die Extremisten haben sich in den Bergen verschanzt. „Yarmuk“ nennt sich die Bande, die im vorigen September auf einer Website der Republik den „heiligen Krieg“ erklärte. Es soll sich um gut ein Dutzend radikaler Islamisten handeln, die aus dem Dorf Kendelen stammen und enge Kontakte zu tschetschenischen Terroristen unterhalten. Muslim Atajew war damals ihr Anführer. Im August lieferte sich „Yarmuk“ ein Gefecht in der Nähe des Dorfes Tschegem mit 400 Sicherheitskräften, die mit Panzern und Hubschraubern angerückt waren. Zwei Guerilleros wurden getötet, Atajew entkam. Ende Januar waren Polizei und Geheimdienst erfolgreicher. Sie stöberten Atajew und drei Rebellen mit ihren Frauen am Stadtrand Naltschiks auf und belagerten sie tagelang. Alle starben schließlich im Kugelhagel der Sicherheitskräfte.

Bereits nach der Schießerei im August hatte die Regierung überall in der Republik die Dorfältesten instruiert, dafür zu sorgen, dass die Männer nicht mehr in die Moschee gingen, zu Hause beteten und sich möglichst auch den Bart abrasierten. Bei Zuwiderhandlung kündigte die Regierung Sanktionen an. In Tschegem ließ sie die Namen von 18 angeblichen Islamisten verlesen. „Diejenigen, die auf der Liste stehen, werden verschwinden oder vernichtet“, soll der Polizeichef gedroht haben.

Gerade junge Männer, die häufig in die Moschee gehen, werden auf der Liste geführt, bestätigt Mullah Chasratoli Dsaseschew vom GRM in der inzwischen einzigen offenen Moschee. Der Mullah hält die Schließung der Moscheen weder für weise noch die Anhänger des oppositionellen Emir für gefährlich. Dennoch hat sich der GRM von den „republikanischen Gemeinden“ Mukoschews distanziert.

Seit seine Moschee geschlossen wurde, führt der „Emir“ ein Nomadenleben. Zu einem Treffen mit ihm folgten wieder Spitzel auf Schritt und Tritt. Der Erfahrung einer kaukasischen Kollegin war es zu verdanken, dass es gelang, sie abzuhängen. Fatima Tlisowa wurde dafür am nächsten Tag „bestraft“. Auf der Straße zerren sie drei Männer in ein Auto, halten sie stundenlang fest und versengen ihre Finger mit Zigaretten.

Mukoschew ist die Nummer eins auf der Liste. Doch er und die Sicherheitskräfte spielen miteinander Katz und Maus. Mukoschew saß mehrmals in Haft, kam aber immer wieder frei. „Man hat uns Muslime der Grund- und Bürgerrechte beraubt“, meint der 38-Jährige. Vorwürfe gegen die Gemeinde seien nie erhärtet worden. „Niemand aus unserer Gemeinde wurde jemals bei Yarmuk oder als Rebell in Tschetschenien verhaftet.“ Als Vertreter der gemäßigten Hanfi-Rechtsschule möchte er mit Radikalen nicht in einen Topf geworfen werden.

Aber warum gehört dann zu seinem Umfeld auch Ruslan Odijew, ein junger Russe, der bei den Taliban kämpfte und auf der US-Basis Guantánamo einsaß? Und warum war Odijew voriges Jahr zwei Monate später nach seiner Auslieferung wieder auf freiem Fuß? Darf militante Prominenz im Unterschied zu einfachen Gläubigen auf Nachsicht setzen?

Die Behörden schweigen, der Emir redet. Die Radikalisierung der Jungen sei ein Problem. Mukoschew hält die Übergriffe für gezielte Provokationen. Je mehr beunruhigende Nachrichten die Republik verlassen, desto fester sitzen die Sicherheitsorgane im Sattel. Nach dem Mord an Rassul hat sein Vater Anzeige erstattet. Niemand wurde bisher zur Verantwortung gezogen.

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