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Archiv-Artikel

Das Land der verflixten Sieben

BILDUNG Die neue Mittelschule lässt in Bayern die Zahl der Schulformen explodieren. Die hochgetunte Hauptschule löst nicht die Probleme, die wir hier haben, sagen Kritiker

„Hauptschüler haben ein anderes Begabungsspektrum“

ANTON HUBER, REALSCHULLEHRER

VON CHRISTIAN FÜLLER

Die künftige bayerische Mittelschule, eine Art hochgetunte Hauptschule, gerät unter massive Kritik, bevor es sie gibt. „Das ist Augenwischerei“, sagte die grüne Landtagsabgeordnete Simone Tolle zu dem am Dienstag im Kabinett beschlossenen Konzept. „Die Mittelschule kann das Schulsterben in Bayern nicht aufhalten.“ Kopfschütteln auch in Elternverbänden. „Ich finde es geradezu albern, für die Mittelschule noch einen weiteren Schulabschluss einzuführen“, meinte Ulrike Köllner, die Vorsitzende der Gymnasialeltern Bayerns. „Haupt- und Realschulen sollten endlich zusammen gelegt werden.“

In Bayern mussten in den letzten Jahren 500 Hauptschulen schließen. Die Landesregierung will der Schwindsucht der verbleibenden rund 900 Hauptschulen nun begegnen, indem sie sie zu Mittelschulen aufwertet. Das geht allerdings nur, wenn die jeweilige Hauptschule mindestens 300 Schüler hat, Ganztagsangebote vorweisen kann und Kooperationen mit der Wirtschaft. Erfüllen die Hauptschulen diese Kriterien, dann heißen sie ab 2010 Mittelschulen – und vergeben eine mittleren Schulabschluss. „Die neue bayerische Mittelschule wird sowohl für Schüler, Eltern und Wirtschaft ein starker Partner für die Zukunft sein“, sagte Schulminister Ludwig Spaenle (CSU).

Selbst beim Koalitionspartner FDP geht man freilich vorsichtig auf Distanz zu dem Beschluss. „Unser Ziel ist es, die verkrusteten Schulstrukturen in Bayern aufzubrechen – das geht leider nur in Tippelschritten“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der FDP, Renate Will. Auch das Ziel der FDP ist die vollständige Fusion von Haupt- und Realschulen. Weil es beim Koalitionspartner aber „nur ganz soft geht“ (Will), haben sich die Liberalen die bayerischen Bürger auserkoren. „Wir setzen auf die Kreativität der Leute vor Ort“, sagt Will, „wenn die wollen, könnten Haupt- und Realschüler zusammen lernen.“

Will hat Grund, auf zivilen Ungehorsam zu hoffen. Denn in Bayern ist es derzeit praktisch unmöglich, dass Haupt- und Realschüler in den Hauptfächern gemeinsam die Schulbank drücken. Nicht einmal in den 16 Schulen, an denen die beiden Schulformen ab September offiziell kooperieren dürfen. Selbst dort, so erfuhr die taz aus dem Ministerium, sind direkte Begegnungen der Schüler nur in Sport, Musik und dem Förderunterricht erlaubt. Warum ist das so? „Weil Minister Spaenle auf ein differenziertes Schulsystem setzt“, sagt sein Sprecher. Und weil die Vertreter der bayerischen Realschulen, Eltern wie Lehrer, das Mischen der Schüler ablehnen. Der Vorsitzende des Verbandes der Realschullehrer, Anton Huber, sagte der taz: „Hauptschüler haben ein anderes Begabungsspektrum. Wenn die einen Realschulabschluss wollen, dann sollen sie ihn lieber beim Original machen – bei uns.“

Wenn die Mittelschule im Jahr 2010 eingeführt wird, gibt es in Bayern de jure sieben verschiedene Schulformen unterhalb des Gymnasiums.

In den Provinzen hat man kein Verständnis für diese Schulpolitik. Zum Beispiel im unterfränkischen Maßbach, einer jener gefährdeten Hauptschulen mit derzeit noch 170 Schülern: Mittelschule wollen die Maßbacher nicht werden – „denn der neue Abschluss wird von der Wirtschaft nicht akzeptiert“, sagt Wolfgang Wittmann vom Bayerischen Lehrerverband. Er leitet die Maßbacher Schule. Sie könnte auch gar nicht Mittelschule werden – sie ist zu klein. Und Kooperationen „sind viel schwieriger, als sich die in München vorstellen“. Maßbach liegt am Rande des Landkreises Bad Kissingen, es müsste mit einer Schule aus dem Nachbarkreis zusammenarbeiten. „Außerdem, sollen wir Schüler für zwei Fächer kilometerweit mit dem Bus durch die Gegend fahren?“, fragt Wittmann.

Sein Haus gehört zu den über 100 bayerischen Hauptschulen, die in München die Kooperation mit Realschulen beantragt haben. Sonst steht seine Schule vor dem Aus, bald wird sie nur noch 120 Hauptschüler haben. „Unsere Probleme sind nicht mit den Instrumenten der letzten 200 Jahre lösbar“, sagt der Lehrer.

Wittmann wird zusammen mit dem Bürgermeister seiner Gemeinde wieder einen Antrag stellen – den auf Regionalschule. Die gibt es zwar in Bayern gar nicht, aber sie macht beispielsweise in Schleswig-Holstein das, was Wittmann wie hunderte anderer bayerischer Schulleiter will: gemeinsam unterrichten.

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