: Der gläserne Papst
Die Aufbahrung des Papstes verstößt gegen die weltliche Vorstellung von Pietät. So befremdlich es vielen erscheinen mag – der öffentliche Umgang mit dem Tod folgt einer jahrhundertealten Tradition
VON RALPH BOLLMANN
Es sind vor allem Nichtkatholiken, die in diesen Tagen solche Fragen stellen: Musste es denn sein, dass der todkranke Papst noch an Ostern am Fenster seines Palastes erschien? War es wirklich nötig, dass die Weltöffentlichkeit dann ohne Unterlass über die gesundheitliche Verfassung des Sterbenden in allen Einzelheiten unterrichtet wurde? Warum gab der Vatikan jetzt auch noch die Fotos des aufgebahrten Leichnams heraus?
Hinter derlei Vorhaltungen steckt der kaum verhüllte Vorwurf, beim Tod des angeblichen Medienpapstes Johannes Pauls II. habe der Vatikan als vermeintlich letzte Bastion der Pietät vor den Zwängen der modernen Mediengesellschaft kapituliert. Doch ist das Gegenteil der Fall: Die römischen Vorgänge wirken in der säkularisierten Moderne vor allem deshalb so befremdlich, weil der Vatikan an seinen Traditionen eisern festhält – eben gerade gegen all jene Vorstellungen, die sich das bürgerliche Zeitalter in den vergangenen zwei Jahrhunderten vom Umgang mit dem lebenden oder toten Körper des Menschen gemacht hat.
In der alteuropäischen Kultur, also bis zum 18. Jahrhundert, war der öffentliche Umgang mit dem Tod ganz selbstverständlich. Im Zimmer eines Sterbenden gingen die Menschen aus und ein. Mehr noch als für andere galt das für die weltlichen und geistlichen Potentaten. So war es etwa 1493, als der habsburgische Kaiser Friedrich III. an einer misslungenen Amputation seines linken Beines starb: Der ganze Hofstaat schaute zu, wie die Ärzte die grobe Säge ansetzten, während der Monarch mit Alkohol nur notdürftig betäubt war.
Das moderne Konzept eines abgesonderten „Privatlebens“ konnte es für die Herrscher des Mittelalters und der frühen Neuzeit schon deshalb nicht geben, weil sie den Herrschaftsanspruch der Monarchie mit ihrem eigenen Fleisch und Blut im ursprünglichen Sinn des Wortes verkörperten. Deshalb mussten die Könige und Kaiser einst so viel reisen, um ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen, wie auch Papst Johannes Paul II. auf seinen vielen Reisen körperliche Präsenz zeigte.
Erst in einem langen Prozess entwickelte sich aus der vormodernen Rechtslehre von den „zwei Körpern des Königs“, wie sie der Historiker Ernst Kantorowicz beschrieben hat, die moderne Staatlichkeit. Die öffentliche Funktion, das „Amt“, wurde von der konkreten Person des „Amtsinhabers“ unterschieden.
Vorerst aber barg der Tod jedes Herrschers das Risiko, dass die Herrschaft vollständig zusammenbrach. Die Vorkehrungen, die das Kirchenrecht nach dem Tod eines Papstes vorsieht, zeugen noch immer davon. Früher mussten die Gemächer des Pontifex tatsächlich versiegelt werden, damit die Bewohner Roms sie nicht ausplünderten, musste der Siegelring zerstört werden, damit kein Kardinal das Hoheitszeichen missbrauchen konnte. So sehr ist die Idee des Papsttums bis heute der alteuropäischen Vorstellungswelt verpflichtet, dass es für den Stellvertreter Christi auf Erden einen Stellvertreter nicht geben kann. Bis zur Wahl des Nachfolgers waltet ein Gremium, dessen Mitglieder alle drei Tage ausgewechselt werden.
Die öffentliche Zurschaustellung des Todes hatte aber auch einen ganz profanen Grund. Der Leichnam des Verstorbenen war das letztgültige Beweisstück, dass der Betreffende auch tatsächlich tot war, und seine entspannten Gesichtszüge sollten belegen, dass er sein irdisches Dasein im Einklang mit Gott beendet hatte. In der ganzen Weltgeschichte wurde kaum eine Abbildung so umfassend und absichtsvoll verbreitet wie das Totenbildnis Martin Luthers. Es sollte die Zweifel an der Gottgefälligkeit von Luthers Wirken endgültig widerlegen.
Neben dem Papsttum war es kurioserweise nur der Kommunismus, der den öffentlichen Totenkult ins 20. Jahrhundert hinüberrettete. Die mediale Anteilnahme am Todeskampf des Papstes lässt sich in jüngerer Zeit nur mit den letzten Lebenswochen des sowjetischen Generalsekretärs Breschnew oder des jugoslawischen Generals Tito vergleichen. Auch erinnert die Information, der Leichnam des 1963 verstorbenen Konzilspapstes Johannes XXIII. sei noch immer gut erhalten, stark an die Mitteilungen aus Moskau, die alle anderthalb Jahre über den Zustand des Lenin-Leichnams informieren.
Während der Kommunismus die überkommene Ikonografie mit der weltlichen Moderne zu verbinden suchte und daran scheiterte, verkörpert das Papsttum als einzige Institution die alteuropäische Vorstellungswelt bis heute ganz ungebrochen. Das lässt den öffentlichen Tod des Papstes so befremdlich erscheinen, das macht aber zugleich die Faszination der römischen Ereignisse in diesen Tagen aus.