piwik no script img

Archiv-Artikel

Gedenken für die NPD

Die Vergangenheitsbewältigung der demokratischen Parteien in der Berliner Republik trägt die Züge des verordneten Antifaschismus der DDR. Letzterer ist schon gescheitert

Die ökonomische und soziale Ungleichheit kostet so einen hohen politischen Preis

Als kurz nach der deutschen Einheit die ersten Neonazis in den neuen Bundesländern auftauchten, hatte man eine schnelle Erklärung gefunden: Sie wären eine Folge der DDR und ihres „verordneten Antifaschismus“. Die unzähligen Denkmäler, Museen und Gedenktage sollten zwar die Erinnerung an den Schrecken des Faschismus wachhalten. Aber die kommunistischen Lehren aus der Geschichte – etwa die Forderungen nach Humanität und Solidarität – blieben in der gesellschaftlichen Realität der SED-Diktatur leere Worte. Die Begriffe wurden durch die politische Praxis diskreditiert und verloren ihren historischen Sinn.

Die Geschichte entzieht sich einer solchen Form der Instrumentalisierung. Schlimmer noch: Mit dem Antifaschismus sind auch seine Werte diskreditiert worden. In einer dialektischen Umkehrung wurde so zur Rehabilitierung seines Antipoden beigetragen.

Im Westen war von Antifaschismus selten die Rede. Man sprach lieber von Vergangenheitsbewältigung. In dieser Tradition stehen auch die derzeitigen Jubiläumsfeiern 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es vergeht kaum ein Tag ohne einen Rückblick oder eine Gedenkfeier.

Doch die Gesellschaft hat sich verändert – sie spaltet sich unter den Bedingungen der Internationalisierung in Gewinner und Verlierer. Der immer noch zunehmende Reichtum wird von einer Minderheit monopolisiert. Die Diskrepanz zwischen steigendem Wohlstand und zunehmender Armut ist der Unterschied zu den vergangenen Jahrzehnten – nicht die Ungleichheit an sich. Die Politik erklärt diese Entwicklung zum Schicksal, die sich der politischen Steuerung entzöge. Doch nicht nur das. Sie wird zudem ideologisch legitimiert. Es vergeht kein Tag ohne die Forderung nach größeren Einkommensunterschieden und dem Ruf nach mehr Eigenverantwortung. Mehr Ungleichheit ist die Ideologie des frühen 21. Jahrhunderts.

Zugleich sind die ersten politischen Folgen zu spüren. Mit der NPD ist in Sachsen eine faschistische Partei nach über 30 Jahren wieder in einem Landtag vertreten. Mit der alten Truppe verbohrter Altnazis hat diese Partei nichts zu tun, sie ist keineswegs von gestern. Geschickt greift sie die gesellschaftlichen und sozialen Widersprüche auf – etwa in ihrer Agitation gegen die Arbeitsmarktreformen. Zugleich thematisiert die NPD die Tabus der etablierten Politik. Etwa die Frage, wem Globalisierung und Europäisierung nutzen.

Die Antworten der demokratischen Parteien sind dagegen von abnehmender Überzeugungskraft. Also appellieren sie an die Lehren der Geschichte. Die Gedenkfeiern sollen das Bewusstsein der Deutschen schärfen und ihr Verantwortungsgefühl stärken. Ohne diesen moralischen Impetus vergeht keine Gedenkfeier. Die historische Erfahrung dient dabei einem nachvollziehbaren und guten Zweck: Die Deutschen sollen vor falschen Antworten auf die aktuelle Krise abgeschreckt werden. Die Struktur ist bekannt: Diese Instrumentalisierung der Geschichte ist vergleichbar mit dem verordneten Antifaschismus der DDR. Auf aktuelle Fragen wird mit der Vergangenheit geantwortet. Diese Strategie hat der DDR bekanntlich nicht genutzt. Die ökonomischen und politischen Verwerfungen der Gegenwart hatten mit der Vergangenheit nichts zu tun – und waren deshalb auch keine überzeugende Antwort.

Die politische Klasse von heute begeht nun denselben Fehler, sie instrumentalisiert die Vergangenheit aus Furcht vor der Gegenwart. Wider Willen stärkt sie damit die extreme Rechte. Ihr werden Antworten auf berechtigte Fragen überlassen. Doch sind Globalisierung und eine marktliberal geprägte Europäisierung kein Schicksal, sondern – wie jede menschliche Entscheidung – prinzipiell revidierbar. Wenn sie nicht der gesamten Gesellschaft zugute kommen, wird das auch in diesem Fall passieren. Diese Entwicklung noch nicht einmal mehr denken zu können, ist kein Zeichen für Fortschritt, sondern dokumentiert lediglich die Geschichtsblindheit unseres politischen und ökonomischen Establishments.

Auf diesem Weg ist man ideologisch schon gut vorangekommen. Die NPD – und die extreme Rechte in ganz Europa – haben eine politische Überzeugung: die von der Ungleichheit der Menschen. Sie begründen diese Ungleichheit höchst unterschiedlich und beschränken sich keineswegs auf Rassismus und Antisemitismus. Ihr Feind ist die Aufklärung mit der Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen. Dieser Ideologie wird in diesem Land jeden Tag Tribut gezollt, in der Bundes- und den Landesregierungen. Die politisch naiven Marktliberalen wurden so zum ideologischen Wegbereiter der Neonazis – so wie die SED-Bürokratie mit ihrer Propaganda den Nazis in den neuen Bundesländern den Boden bereitete. Die SED diskreditierte Begriffe wie Humanität und Solidarität. Die Marktliberalen degradieren die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen zum substanzlosen Bekenntnis ohne ökonomische und soziale Grundlagen. Durch dieses Tor marschiert die extreme Rechte, sie braucht die liberale Ideologie nur noch auf die politische Sphäre zu übertragen.

Die Geschichte entzieht sich einer solchen Form der Instrumentalisierung

Die ökonomische und soziale Ungleichheit kostet so einen hohen politischen Preis: die rechtliche und politische Gleichheit im demokratischen Verfassungsstaat. Der zeitgenössische Faschismus praktiziert genau diese Strategie. In der Demokratie stellt man die Gleichheit nicht ungestraft zur Disposition. Am Ende infiziert sonst die Ideologie der Ungleichheit die gesamte Gesellschaft. Dabei muss sie keineswegs den Verzicht auf sozialpolitische Umverteilungsmaßnahmen bedeuten. Götz Aly hat in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ deshalb den Sozialstaat als die entscheidende Legitimationsquelle des Naziregimes ausgemacht. Er verwechselt aber Ursache und Wirkung – und hat sich im Übrigen schlicht verrechnet, wie Adam Tooze in dieser Zeitung nachgewiesen hat. Im Dritten Reich wurde politisch entschieden, wer zur „Volksgemeinschaft“ gehört und wer entsprechend profitieren darf. Die Sozialpolitik der Nazis beruhte auf der „natürlichen Ungleichheit“ auf Basis rassistischer Kriterien. Damit ist der Markt zwar nicht mehr das entscheidende Kriterium für die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sondern wird durch politische Willkür ersetzt. Aber der Sozialstaat mutiert damit nicht zum Zwillingsbruder der Diktatur. Das Gegenteil ist richtig. Er ist der einzige Weg, um die rechtsstaatliche Demokratie vor der zerstörerischen Dynamik kapitalistischer Ökonomien zu schützen. Ansonsten fallen sie den politischen Folgen ihrer Tendenz zur steigenden Ungleichheit zum Opfer.

Wer über diesen Zusammenhang nicht reden will, sollte auch über den Faschismus schweigen. Diese Erkenntnis stimmte nicht immer. Sie muss aber heute wieder in Erinnerung gerufen werden. Der verordnete Antifaschismus ist gescheitert. Einer verordneten Vergangenheitsbewältigung als Politikersatz wird es nicht besser ergehen.

FRANK LÜBBERDING