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Archiv-Artikel

„Ich wünsche mir aggressive Frauen“

RECHTE Die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah über Frauenrechte, Islamistinnen und die Rolle der Scharia

Hoda Salah

■ 45, geboren in Ägypten, ist Postdoktorandin an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkt: soziale Bewegungen in arabischen und muslimischen Gesellschaften Foto: privat

INTERVIEW HEIDE OESTREICH

sonntaz: Frau Salah, im Dezember hat sich der Militärrat für Gewalttaten gegen Frauen auf dem Tahrirplatz in Kairo entschuldigt. Wieso gerade bei den Frauen?

Hoda Salah: Das ist etwas Neues. Die Ägypter wollen keine Gewalt mehr zulassen. Sie pochen auf ihre Menschenwürde. Frauen haben offenbar dazu noch einen Bonus. Das zeigt, dass sich die Frauenrechte internationalisieren. Diese Revolution ruft nach der Würde der Menschen und die Entschuldigung war eine zaghafte Antwort des Militärs darauf.

Am Internationalen Frauentag dagegen wurden Frauen, die für ihre Rechte demonstrierten, von Männern verhöhnt und verjagt. Sie seien vom Westen gesteuert. Was zählen die Frauenrechte in der Revolution?

Den Vorwurf, man sei aus dem Westen gesteuert, bekommen alle Menschenrechtsgruppen zu hören. Alles, was dem Staat nicht angenehm ist, bekommt dieses Etikett.

In Ägypten sind auch konkrete Rechte der Frauen zurückgedrängt worden, etwa die Frauenquote im Parlament. Die Verfassungskommission besteht nur aus Männern. Ist die Revolution der Frauen zu Ende, bevor sie angefangen hat?

Nein. Dann hätte ich jetzt Depressionen bekommen. Es gab Rückschritte, aber auch Fortschritte. Grundsätzlich haben wir nichts gewonnen, nur weil irgendwo Frauen sitzen. Wenn das ultrakonservative Frauen wie die Salafistinnen sind, hilft uns ihre bloße Präsenz überhaupt nicht weiter. Momentan haben wir in Ägypten eine dramatisch schlechte Situation. Es scheint nur die Alternative zwischen Militär und Islamisten zu geben. Bei den Muslimbrüdern gibt es eine sehr starke Frauenbewegung. Wenn diese Frauen die Verfassung mitschreiben, ist zu fürchten, dass sie der Gesellschaft ihre rigiden Geschlechtervorstellungen aufzwingen.

Heißt das, dass die konservativen Frauen, die etwa das ungleiche Erbrecht, die Polygamie oder ein eingeschränktes Scheidungsrecht für Frauen akzeptieren, in der Mehrheit sind?

Ich fürchte, ja. Die Frauen verpassen gerade eine historische Chance. Jede Frauenbewegung lebt von Aggression. Die ägyptischen Frauen kämpfen für Demokratie und meinen, in der Demokratie könne man dann über Frauenrechte reden. Ich glaube, das reicht nicht. Ich wünsche mir, dass die ägyptischen Aktivistinnen aggressiver werden. Ich habe mich sehr gefreut, als Frauen mit und ohne Kopftuch auf die Straße gingen und sagten: Wir sind die rote Linie. Man sagt normalerweise: Die Armee ist die rote Linie. Man darf die Armee nicht kritisieren. Jetzt sagen die Frauen: Wir sind die rote Linie, niemand darf uns demütigen. Das waren, bis auf die extremen Salafisten, Frauen aus allen Gruppierungen. Für mich war das einer der schönsten Momente der Revolution.

Wenn die Muslimbrüder die Wahl gewinnen sollten, kommt dann das Rollback im Familienrecht?

Die Muslimbrüder werden die Rechte der Frauen in der Öffentlichkeit nicht antasten, das ergaben auch meine Befragungen unter Islamisten: Frauen werden repräsentiert sein, Bildung und Berufe haben. Aber sie werden den Privatbereich antasten, und das wird schlecht für Frauen und für Männer: Die Männer bekommen die finanzielle Verantwortung für die Familie. Die Frau muss dafür gehorsam sein. Das ist ihre Interpretation des Koran: Der Mann ist Oberhaupt der Familie. Nur, wie soll das in der Praxis gehen? Dreißig Prozent der ägyptischen Frauen sind Alleinerziehende. Sie ernähren die Familie. Viele Männer wiederum schaffen es nicht, die Familie allein zu ernähren. Die Islamisten überfordern die Männer.

Wie können Frauen für die Abschaffung ihrer eigenen Rechte sein?

Sie idealisieren die Ungleichheit: Die Frau herrscht daheim wie eine Königin, der Mann muss das Essen ranschaffen. Sie verschaffen sich auch Vorteile. In meinen Befragungen haben etwa islamistische Professorinnen ganz selbstverständlich gesagt: Der Mann muss die Familie ernähren, mein Geld behalte ich für mich.

Und wie stark wird die Gegenwehr?

Das ist die Frage: Die ägyptische Gesellschaft ist sehr konservativ. Die Liberalen, die den Koranbezug nicht in der Verfassung haben wollten, haben ihre Meinung geändert. Alle argumentieren jetzt mit dem Islam, auch die Säkularen.

Das heißt, niemand argumentiert mit universellen Menschenrechten?

Doch, aber sie stützen sich aus strategischen Gründen auf den Koran: Es wird gesellschaftlich besser akzeptiert. Die „säkularen“ Frauen sagen, dass der Koran die Gleichberechtigung vorsieht. Von dort kommen sie und fordern etwa, dass der Staat die internationale Frauenrechtskonvention der CEDAW, die alle Diskriminierungen verbietet, ohne Vorbehalte anerkennt. Im Moment besagen diese Vorbehalte: Alle Rechte gelten, solange die Scharia nicht dagegensteht. Deshalb gelten etwa die Artikel 2, 9 und 16, die die Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen festschreiben, im muslimischen Familienrecht nicht. Die Säkularen fordern die Abschaffung der Vorbehalte.

Und was wollen die islamischen Feministinnen?

Leider bildet die konservative Strömung der Muslimbrüder-Frauen die Mehrheit. Sie wollen als Frauen in der Öffentlichkeit stehen, lehnen aber Gleichberechtigung im privaten Leben ab. Sie beziehen sich zwar auf die Konvention der CEDAW, formulieren aber Vorbehalte: gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen oder gegen Homosexualität. Es gibt auch muslimische Feministinnen, die Gleichheit im Privatleben wollen, aber sie sind in der Minderheit.

Das heißt, Sie sind wenig zuversichtlich?

Doch, ich bin trotzdem zuversichtlich. Wenn Sie die Gesellschaft von unten ansehen, da passiert etwas Außerordentliches. Im Jemen etwa mussten die Frauen ihr ganzes Gesicht verdecken. Jetzt gehen sie ohne Gesichtsschleier. Als der Präsident das sah, sagte er: Sie sind Huren. Und die Frauen haben gesagt: Ja, okay, dann sind wir eben Huren. Das ist das Wunderbare: Es ist eine Revolution der Geschlechterverhältnisse von unten. Im Jemen verlassen die Frauen ihr Haus. Tawakkul Karman, die den Nobelpreis bekam, hat die Demonstrationen angeführt. Und die Männer sind gefolgt.

Tawakkul Karman ist auch in einer islamistischen Partei. Kann es sein, dass das Nobelpreiskomitee eine Frau geehrt hat, die im Familienrecht die Scharia behalten will?

Das kann sein. Aber man kann sich nicht seine Lieblingsrevolution herbeifantasieren: Diese Frau kämpft für die Rechte der Frauen in der Öffentlichkeit. Für das Wahlrecht, Frauen in der Regierung. Das ist gut und wichtig.

Normalerweise ist die Armee die rote Linie. Jetzt sagen die Frauen: Wir sind die rote Linie, niemand darf uns demütigen

Wie weit kann man unter einer Herrschaft der Religiösen damit kommen?

Das probieren wir jetzt aus. Die Muslimbrüder denken, wenn sie die Mehrheit haben, können sie andere zwingen, nach ihrer Vorstellung zu leben. Sie haben die Demokratie noch nicht verstanden: Dass sie Minderheitenrechte und individuelle Menschenrechte auch wahren müssen, wenn sie an der Macht sind.

Wer sollte diesen Lernprozess in Gang setzen?

Unterschätzen Sie die öffentliche Meinung und die Zivilgesellschaft nicht. Wer regiert, muss sich rechtfertigen. Das werden die Muslimbrüder lernen.

Sehen Sie die Chance, dass Frauen ihre Menschenrechte mit dem Koran in der Hand erkämpfen können?

Auf jeden Fall ist das der herrschende Diskurs: Am Anfang sagten alle, die Scharia wird nicht die Grundlage der Verfassung. Jetzt ist die Scharia die Hauptquelle der Verfassung. Damit arbeiten die Frauen nun. In Tunesien wird etwa das Verbot der Polygamie religiös begründet: Der Mann kann unmöglich mehrere Frauen gleich gut behandeln, wie der Koran es fordert.

Wäre das realistisch gesehen das Beste, was man in Zukunft für die Frauen rausholen kann?

Ich hoffe nicht. Mich als säkulare Frau kann es nicht zufriedenstellen, dass man Menschenrechte mit der Religion begründet. Ich finde das schrecklich.