: Die ausgebildete Kranke
HÄUTUNG Sie ist eine von drei Millionen. So viele Menschen leiden hierzulande unter Neurodermitis. Als Kira Schneider das Jucken und Kratzen kaum noch erträgt, kommt die Einweisung in die Akutklinik
■ Die Krankheit: Neurodermitis ist eine chronische, nicht ansteckende Erkrankung des Immunsystems. Wichtigste Symptome sind Ekzeme auf der Haut und starker Juckreiz. Die Betroffenen klagen über Schmerzen, Ruhelosigkeit und Depressionen.
■ Die Patienten: Drei Millionen Deutsche haben Neurodermitis. In den letzten 50 Jahren hat sich die Zahl der erkrankten Kinder verdoppelt, heute ist schon jedes dritte Neugeborene betroffen.
■ Die Therapie: AkutpatientInnen können sich stationär behandeln lassen. In konventionellen Kliniken dauert dieser Aufenthalt bis zu 12 Tage. Laut dem Bundesverband Neurodermitiskranker e. V. kostet dieser 400 bis 500 Euro am Tag. In ganzheitlich orientierten Kliniken kostet ein Behandlungstag etwa 180 Euro, die PatientInnen bleiben aber mindestens drei Wochen.
VON EMILIE PLACHY
Als würde sie an sich selbst ersticken. So fühlt sie sich. Als sei sie gefangen in einem Panzer aus Schmerz. Ein Monster voller roter Flecken, offener Wunden, gequält von sich selbst, von ihrem eigenen Körper. Als sie nicht mehr schlafen kann, nicht mehr aufstehen will, nicht mehr weinen mag, kommt die Einweisung ins Krankenhaus. Endlich. „Akutes atopisches Ekzem“ steht auf dem kleinen rosafarbenen Zettel der Hausärztin, „superinfiziert“. Neurodermitis.
Zwei Tage später bricht Kira Schneider* auf in die Klinik. Sie ist zwanzig Jahre alt, das sind zwei Jahrzehnte, in denen ihre Schönheit einfach immer da war wie die Luft zum Atmen. Ihr volles blondes Haar, die selten blauen Augen, ihre helle glatte Haut. Babyhaut, Kinderbäckchen, schimmernde Jungmädchenhaut.
Nässende Risse
Jetzt sitzt sie im Zug nach Thüringen. Ihr Rücken ist voller entzündeter Kratzspuren, die einst zarten Armbeugen durchziehen nässende Risse, unter ihren Augen befinden sich dunkle Augenringe. Ihre Haut hat sich gegen sie gewandt. Sie hat seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen, sie hatte Fressattacken, Heulkrämpfe, hat viel zu viel gekifft. Sie hat ihr letztes bisschen Hoffnung zusammengekratzt, dass sie in Thüringen befreit wird, dass etwas oder jemand ihr aus dieser Haut hilft.
In der Bahn sitzt neben ihr eine weinende Frau. Kira Schneider spricht sie an. Die Frau ist auch auf dem Weg in diese Klinik, sie heult vor Erleichterung, weil ihr bald jemand helfen wird. Sie weiß das, weil sie schon einmal in der Friedensburg behandelt wurde. Kira Schneider findet, das klingt vielversprechend. Irgendwie nach Heilung.
So wie Kira Schneider denken viele. Aber Neurodermitis kann man nicht heilen. Drei Millionen Deutsche haben diese genetisch bedingte Erkrankung. Die meisten von ihnen sind Kinder, jedes dritte Neugeborene ist inzwischen betroffen. Ihre Zahl hat sich in den letzten fünfzig Jahren verdoppelt. Wen es erwischt, wessen Immunsystem schlappmacht, leidet unter Juckattacken, schmerzender Haut, Schlafmangel, Depressionen. „Aber eine Hauterkrankung ist das trotzdem nicht“, sagt Dr. Raphael Shimshoni. „Für mich sind das Stoffwechselstörungen, die sich über die Haut äußern.“ Der 65-Jährige ist Chefarzt der Friedensburg, einer von deutschlandweit zwei dermatologischen Fachkliniken, die KassenpatientInnen ganzheitlich behandeln.
Die Therapie für die allermeisten Neurodermitiker sieht ganz anders aus. Am häufigsten werden von den Hautärzten Glucocorticoide und Zytostatika verordnet, so genannte Immunsuppressiva. Es sind Medikamente, die die Symptome unterdrücken. Bis zum nächsten Schub. „Irgendwann hat jeder die Schnauze voll von der Cortison-Schmiererei“, sagt Jürgen Pfeifer, dann drängen die PatientInnen auf nachhaltige Lösungen. Der Vorsitzende des Bundesverbandes Neurodermitiskranker berät seit 24 Jahren Betroffene. Wie für Dr. Shimshoni steht für ihn „nicht die Haut im Mittelpunkt, sondern das gesamte Krankheitsgeschehen“. Die beiden ganzheitlichen Kliniken in Leutenberg und im oberpfälzischen Neukirchen empfiehlt er Ratsuchenden, „das lohnt sich“.
Seit Jahren evaluiert der Verband die Behandlungsergebnisse: 40 Prozent der ganzheitlich behandelten Patienten haben nach zwei Jahren wieder leichte Beeinträchtigungen, nur 20 Prozent müssen dann erneut behandelt werden. Eine gute Bilanz. Dennoch, ist sich Pfeifer sicher, werden die Kassen keine weiteren solchen Häuser zulassen. „Dafür sorgen die Hardliner unter den Dermatologen. Und natürlich die Pharmalobby.“ Bis zu 1.500 Euro monatlich können die Medikamente eines konventionell behandelten Neurodermitikers kosten.
Hoch oben auf dem Berg steht sie, die Friedensburg. Kira Schneider teilt sich das Zimmer mit zwei anderen Frauen. Zu DDR-Zeiten war hier in Thüringen ein Ferienheim der Nomenklatura, heute sind Kranke einquartiert. Neurodermitiker, Schuppenflechte-Patienten, Weißfleckenkranke – „Aussätzige“ hätte man früher gesagt. Kinder toben durch die Gänge, die in ihren Anti-Allergiker-Anzügen aussehen wie kleine Außerirdische. Frauen kommen die Treppen herunter, deren Kopf bis auf einen Sehschlitz bandagiert ist, Männer, deren rote Haut schuppt und rieselt. Kira Schneider erkennt, dass es noch viel schlimmer für sie kommen kann.
Eine Stunde nach ihrer Ankunft kommt ein Arzt zum Anamnesegespräch, sie muss sich ausziehen, ihre Wunden zeigen. Sie wird fotografiert. Es ist schlimm. Eine weitere Stunde später bekommt sie die ersten Zinkkompressen. Zuerst muss die Entzündung gelindert werden, dann sieht man weiter. Es ist ein Samstagabend, Arbeitszeit.
Dreieinhalb Wochen wird Kira Schneider auf der Friedensburg bleiben. Sie muss alle zwei Stunden zum Einsalben, sie darf nur noch jeden zweiten Tag duschen, kriegt histaminarmes Brot, Kohlgerichte und ungezuckertes Kompott zu essen. Manchmal muss sie fasten. Ihre Schilddrüse wird untersucht, ihr Blut, ihre Ausscheidungen, eine Hautprobe. Sie wird Allergietests unterzogen, hört Vorträge über Ernährung, Entspannung, Krisenmanagement. Die Wunden heilen, sie nimmt sechs Kilo ab, kratzen kann sie sich nicht mehr, ihre Nägel rutschen auf der gesalbten Haut ab. Sie bekommt kein Cortison, keine Antihistaminika. Nur Salben und Rat.
Nach zwei Wochen will ihre Kasse nicht mehr zahlen, sie soll nach Hause fahren und sich ambulant weiterbehandeln lassen. Die Klinikverwaltung handelt für sie noch zehn Tage raus. „Unsere Patienten brauchen einfach mehr Zeit“, erklärt Dr. Shimshoni, „drei, vier, fünf Wochen. Bei den Kassen arbeiten ja keine Ärzte, die holen sich Rat beim medizinischen Dienst. Und für den ist Haut Haut.“
Ein bisschen besser
Es macht Mühe, seinen Worten zu folgen. Shimshoni, 1943 in Tschechien geboren, hat selbst ein Defizit. Er stottert schwer. Womöglich kann er deshalb so anschaulich erklären, was er meint, wenn er von Beschwerde- statt Erscheinungsfreiheit spricht. „Für andere bin ich krank, weil ich stottere“, sagt er, „aber in meiner Wahrnehmung bin ich beschwerdefrei. Ich musste lernen, mich zu akzeptieren, so wie die Patienten hier auch. Sie sind ja keinem was schuldig.“
Nach dreieinhalb Wochen wird Kira Schneider entlassen. Sie nimmt den kleinen roten Zug nach Saalfeld, von dort bringt der ICE sie zurück in ihr altes Leben. Sie weiß: Das Schlimmste ist vorbei. Aber auch, dass sie nicht geheilt ist. Sie hofft.
Sie tut, was sie in der Friedensburg gelernt hat. Sie zwingt sich, nicht zu rauchen, kein Bier zu trinken, weil darin Hefe ist, wenig Fleisch. Sie schläft viel. Sie muss sich ernst nehmen. Muss sagen, was sie nicht essen kann, wann man sie in Ruhe lassen soll, was ihr nicht passt. Anders geht es nicht.
Als drei Monate später der nächste Schub kommt, kurz darauf der übernächste, dann der überübernächste, ist das schlimm. Sie hatte nicht damit gerechnet. Aber es ist auch nicht mehr ganz so schlimm. Sie weiß mehr als früher. Womit sie die Krankheit herausgefordert hat. Wie sie mit den Schmerzen besser zurechtkommt. Mit der Scham. Es geht ein bisschen besser.
So wie früher, das weiß sie, wird es nicht mehr. Als Schönheit einfach da war, so unerschöpflich wie die Luft zum Atmen. Das hat sie weitergebracht.
* Name geändert