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Archiv-Artikel

Die Süße der Kompensation

1950ER Nach dem Hunger kam der Heißhunger. Und mit dem Wirtschaftswunder die Cremetorte

Essensrepublik Deutschland – Teil 2: Die fünfziger Jahre

■ Die Serie: Mangel, Wirtschaftswunder, Globalisierung. Oder anders: Beefsteak ohne Beef, Sahnetorte, Toast Hawaii. Mit einem Blick auf die Teller des letzten Jahrhunderts versucht die sonntaz in den kommenden Wochen, die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu erklären. Genauer: mit einem Blick auf jenes Gericht, das im jeweiligen Jahrzehnt besonders gern und viel gegessen wurde. Wie spiegeln Küchentöpfe die Zeit, in der man lebte? Was verraten sie über politische und wirtschaftliche Situationen von damals? Diesmal, Teil 2: die fünfziger Jahre, Wirtschaftswunder und „Wir sind wieder wer“-Gefühl. Essen bedeutet Kompensation, „weiße Weste“-Gefühl. Gegessen wird möglichst üppig, in Gesellschaft und viel dessen, was zu Kriegszeiten fehlte – Fett. Wonach man in den Kühlschränken der Fünfziger selten suchen musste, ist Butter. Nächste Woche: die Sechziger. Oder anders: der Toast Hawaii.

■ Das Jahrzehnt: Wiederaufbau, Wiederbewaffnung, Wiedergutmachung, Koreakrieg, Erster Indochinakrieg, Sputnikschock, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Stalin, Ulbricht, Brandt, Adenauer, Erhard, Erhardt, Wirtschaftswunder, D-Mark, Gastarbeiter, VW Käfer, Isetta, Staubsauger, Nierentische, Stehpartys, Jukebox, Elvis Presley, Vinylplatten, Petticoat, Jeans, Haarspray, Schmalzlocke, toupiert und hochgesteckt, Halbstarke, James Dean, Marlon Brando, Transistorradio, Massenmedium Fernseher, Wunder von Bern, Coca-Cola, Feuerzangenbowle, Currywurst, Tomatenfliegenpilz, Windbeutel, Frankfurter Kranz, Zitronenschnitte, Apfelsinencreme, Apfelsinentorte, Käsekuchen, Sonntagsbraten.

VON TILL EHRLICH

Kalte Platten, kalter Hund und Kullerpfirsich. Buttercremetorte, Eierlikör, Sülzkotelett und Hackepeter – das Essen und Trinken der fünfziger Jahre wirkt heute, wo Genuss asketisch, differenziert, informiert und wählerisch sein soll, archaisch und enthemmt. Ein großes Fressen, das vor allem fett, süß, roh und fleischig war.

Im Mai 1950 wurden in Adenauers Westdeutschland die letzten Lebensmittelmarken abgeschafft, und in den bald einsetzenden Wirtschaftswunderjahren gab es nicht nur die Fresswelle, sondern auch eine Rauch- und Trinkwelle. Es muss eine verheißungsvolle Zeit gewesen sein, in der die Werbung frohe Botschaften verkündete wie „Zucker zaubert“ und „Unsere weiße Weste verdanken wir Persil“. Hier der Heißhunger, das Nachholen nach dem Mangel der Hungerjahre, dort die zwanghafte Hygiene, die Flecken entfernt und reinwäscht. Verdrängen, lustvoll völlen, fleißig sein, zuversichtlich nach vorne schauen und dabei Appetit haben.

So wurde auch gekocht, gebrutzelt und gebacken. Die Buttercremetorte war ein kulinarisches Prinzip Hoffnung. Sie nahm den Babygeschmack des Fastfoods vorweg: süß, weich, fett und kross. Sie wurde mit gekochtem Pudding gerührt, Instantpuddingpulver gab es noch nicht. Vorzugsweise wurde Puddingpulver der Marke „Dr. Oetker“ verwendet, das teuer war und als Statussymbol galt.

Konditoren schlagen Buttercreme klassisch mit Eigelb auf; hier aber ersetzte das zeitgemäße Industrieprodukt, der Pudding, das Eigelb.

Die Buttercremetorte nahm den Babygeschmack des Fastfoods vorweg: weich, fett und kross

Die Buttercremetorte wurde vorwiegend zu Geburtstagen, zur Taufe, Firmung, Hochzeit und an Feiertagen zubereitet. Essenziell war die Verwendung von „guter Butter“. Sie mit Margarine zu ersetzen, galt als Sakrileg. Zu Beginn der fünfziger Jahre, als die Löhne noch niedrig waren und teilweise noch Mangel herrschte, wurde für die Zutaten der festlichen Buttercremetorte gespart.

Das Verkleistern, Übertünchen des differenzierten Einzelgeschmacks mit der klebrigen Wucht von Zucker und Fett war das Äquivalent zu den beliebten Mehlsoßen, mit denen alles „angedickt“ wurde. Mehlsoßen, die damals „Tunke“ hießen, suggerieren Fülle. Auch die weiße Mayonnaise ist eine Schwester der Buttercreme. Solche Gemische sind Emulsionen. Die Tropfen des Fetts verteilen sich im Wasser. Sie werden von den Emulgatormolekülen des Eigelbs umhüllt, wodurch Bindung entsteht.

Emulsionen wie Buttercreme, Eierliköre oder Mayonnaise – all die fanden sich schon lange in Kühlschränken und Vorratskammern – in den Fünfzigern aber wurden sie aus der feinen bürgerlichen Küche adaptiert und popularisiert. Nun wurde alles Emulsion. Öl und Fonds durften in Speisen nicht mehr erkennbar sein, alles gerann zum weißlichen Ejakulat. Auch der Geist durfte nicht klar und pur sein: Beim Eierlikör verbindet rohes Eigelb hochprozentigen Schnaps mit zuckriger Süße.

Kein Salat ohne Mayonnaise. Davon wurde die Remouladensoße abgeleitet. Mit ihr wurden gern harte Eier übergossen, die Russischen Eier. Ohne Remoulade ging nichts mehr. Nicht einmal Fonds durften noch pur sein, was nicht emulgierte, wurde gnadenlos geliert: Koteletts, Eier, Gemüse, saure Gurken, Hähnchenbrust, Schinken, Roastbeefröllchen … Dazu gab es Remoulade.

Buttercremetorte mit Pudding

Zutaten:

3 Eier

1 Packung Vanillepuddingzum kochen

250 Gramm Süßrahmbutter

150–200 Gramm Staubzucker

20 Gramm Palmin

Milch

Vanillemark

Gehackte Mandeln

Maraschino-Kirsche oder Marzipanrose zum Dekorieren

Rezept:

Einen Biskuitboden mit Eiern und ohne Fett backen, der so hoch ist, dass er nach dem Erkalten zweimal durchgeschnitten werden kann. Das Puddingpulver einer Packung Vanillepudding mit Milch dick kochen. Die weiche Süßrahmbutter mit Staubzucker und Vanillemark cremig rühren. Den Pudding (kalt bis lauwarm) esslöffelweise in die Butter rühren. Palmin schmelzen, abkühlen lassen und teelöffelweise unterrühren. Die Buttercreme rasch zwischen den Teigböden verteilen, diese zusammensetzen und mit der restlichen Buttercreme bestreichen. Gehackte Mandeln rösten, abkühlen lassen und damit die Torte bestreuen. Mit der restlichen Buttercreme zwölf Rosetten aufspritzen und jede mit einer abgetropften Maraschino-Kirsche oder Marzipanrose dekorieren. Die Buttercremetorte etwa sechs Stunden kalt stellen. Vor dem Servieren auf Zimmertemperatur bringen.

Parallel hielt das Exotische Einzug. Ananas, die einst teure Kolonialware, wurde als „Dosenananas“ zum erschwinglichen Massenprodukt für „jedermann“. Sie schmeckt süßsäuerlich und fruchtig, ihre Konsistenz liegt genau zwischen bissfest und weich, was geschmacklich der kleinste gemeinsame Nenner jener Jahre war und niemanden überforderte. Aus der Dose wanderte sie in die Bowle, dann in die Mayonnaisensalate. Geflügelsalat mit Ananas, Käsesalat mit Ananas, Schinkensalat – alles war möglich. Manchmal fielen noch Dosenmandarinenstückchen hinein. So sickerte die Globalisierung in die biedere deutsche Kost der Wirtschaftswundernation ein. Und veränderte schleichend alles.

Die Fünfziger waren heterogener, als es zunächst den Anschein hat. Statt Retrolook und historistischem Design wie heute gab es damals schon spacig eingerichtete Milchbars und Hotelrestaurants. Von den Fassaden wurde der Gipsstuck abgeschlagen, das Bauhaus rehabilitiert, Antiquitätensammler wurden belächelt, Gründerzeitmöbel farbig überstrichen, zuvor der Zierrat abgesägt.

Auch begann die Aufrüstung der Küchen mit neuartigen Haushaltsgeräten, „Zauberstab“ und „Schnellkochtopf“ wurden populär, weil sie das Gefühl gaben, weniger Zeit fürs Kochen aufzuwenden. Die deutsche Hausfrau, „immer fleißig und dennoch proper“, sollte es dank moderner Technik leichter haben. Auf den rituellen Sonntagsbraten daheim wollte man zwar noch nicht verzichten, wohl aber Zeit „am Herd“ sparen. Die Struktur der alltäglichen Mahlzeiten und traditionellen Festessen wurde noch beibehalten, doch der Bruch dieser Kulturmuster kündigte sich bereits an. Die biedere Gemütlichkeit bekam Risse.