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Archiv-Artikel

Der ewig Liebesbedürftige

Ein Stimmungs-Avantgardist und Rollenspieler, ein Romanwerk als fortgesetzte Autobiografie, ein Unschärfebild: Jörg Magenaus zum Widerspruch reizende, aber stimmige Martin-Walser-Biografie

von HERIBERT HOVEN

„Zum ersten Mal begegnete ich Martin Walser 1992.“ Zweifelhafter kann eine Biografie eigentlich nicht beginnen. Signalisiert doch bereits der erste Satz eine Nähe zum Gegenstand der Darstellung, die sich sogleich dem Verdacht der Hofberichterstattung oder gar der Hagiografie aussetzt. Immer wieder, heißt es im „Vorwort“ über ein weiteres Treffen, habe Walser dem Besucher den Handrücken gestreichelt und „zärtlich ans Kinn“ gefasst. Diese Vertrautheiten belohnt Magenau, indem er „Walsers widersprüchliches Verhalten“ nur sanft moniert, ihn „politisch naiv“ nennt und ihm höchstens einmal „unglaubliche Taktlosigkeit“ attestiert. Kritische Einschätzungen überlässt er lieber Walsers Freunden oder Feinden, was oft dasselbe ist. Beißender charakterisiert etwa Uwe Johnson Walsers Attitüden: „Du mit deiner Genie-Überzeugung, du mit deiner Edelfäule des deutschen Dichters im Gehirn.“

Eine Todsünde gegen die Literaturwissenschaft begeht Magenau indes, wenn er, wie er freimütig bekennt, schnurstracks den Werdegang Walsers aus seinem Werk rekonstruiert. Trotz dieser Einwände aber, gerade weil er sich mutig darüber hinwegsetzt, ist dem Biografen ein stimmiges Bild des Dichters geglückt, der sich wie kein zweiter dazu eignet, deutsche Geschichte nachzuvollziehen, die Entstehung einer literarischen Elite zu verfolgen und die „wechselnden Erregungszustände der Intellektuellen“ ins Bild zu setzen.

Kein Zweifel, Walser will geliebt werden. Der 1927 in Wasserburg am Bodensee Geborene erlebt das frühe Sterben des Vaters und den sinnlosen Soldatentod des Bruders als existenzielle Krise. Wer, wie Magenau, sein Bedürfnis nach Zuneigung bedient, dem vertraut er Persönlichstes an, herrliche Anekdoten, die sich umstandslos in seinen Romanen wiederfinden lassen. Genussvoll können wir eintauchen in die Höhen und Tiefen der Freundschaft zwischen Walser und Johnson, die bekanntlich mit einem Zerwürfnis endete, das Johnson „mit großer Geste“ zelebrierte, indem er Walsers Uhr aus dem Fenster warf. Was das Chronometer für Walser bedeutete, hätte er in „Jenseits der Liebe“ nachlesen können, wo es heißt: „Ohne Uhr war er nichts. Die Uhr war das Entscheidende.“

In immer neuen Engführungen von Wirken und Werk belegt Magenau die zentrale These seiner Biografie, wonach Walsers Romane die „fortgesetzte Autobiographie als Chronik seines Empfindens“ seien. Magenau liest Walsers Romane gleichsam als innere Dialoge, „Ich-Oratorien, die nicht durch gestalterischen Willen beendet werden, sondern nur durch Erschöpfung“. Wem „das Fiktionale nur noch als dünnes, zum Selbstschutz übergeworfenes Mäntelchen“ dient, der wird angreifbar. Wenn er, was häufig passiert, von der Kritik verrissen wird („ein miserabler Roman“), sucht er die Liebe des Publikums, die ihm bei seinen zahlreichen Lesereisen nahezu ungebrochen entgegenschlägt.

Nicht immer so sicher kann er sich der Wertschätzung seines Verlegers Siegfried Unseld sein, der den jeweiligen Platzhirschen seines Unternehmens durch die exakt festgelegte Reihenfolge seiner Neujahrstelefonate bestimmt. „Lieber Uwe“, umsäuselt Unseld einmal Walsers Erzrivalen, „ich weiß, wer der Bedeutendste und mir der Liebste ist. Aber das sagen wir niemandem.“ Walser ist sich durchaus bewusst, dass nicht er den bedeutendsten Roman der Nachkriegszeit geschrieben hat, dass nicht er der Dichter der deutschen Teilung ist. Und dass er keine Dramen schreiben kann, obwohl er als Reporter und Hörspielschreiber beim Radio reüssiert hat, hört er allenthalben. Dabei wähnt er sich in vielen Sätteln zu Hause, auch als Anreger und Förderer, ob in der Gruppe 47 oder im Verband deutscher Schriftsteller. Ein Foto beweist, dass die edition suhrkamp in seinem Wasserburger Garten ins Leben gerufen worden ist. Gegen Konkurrenten tritt er in Diskussionsforen an und am Rednerpult, Auftritte, die um Zustimmung werben sollen und oft im Desaster enden.

Minutiös verfolgt Magenau die Windungen von Walsers Leben und Werk. Er bilanziert Tantiemen, Auflagen und selbst Krankenhaustage (63!). Er hat Einsicht genommen in Walsers berühmte Notizbücher, zahlreiche Interviews ausgewertet, manchen Brief den Archiven entrissen. Er resümiert prägnant nicht nur den Inhalt der Romane, Erzählungen und Theaterstücke, sondern auch Reden oder Stellungnahmen, und kommt dabei Walsers Programm des dialektischen Dissenses auf die Spur, das dieser seinen Protagonisten aus „Finks Krieg“ formulieren lässt: „Wenn man von etwas nicht auch das Gegenteil sagt, sagt man nur die Hälfte.“ Und Magenau bewundert den Widerspruchsgeist, der dort, wo die Kulturszene in höhere Sphären abzuheben droht, auf den Marktcharakter der Literatur verweist und auf gewerkschaftliches Handeln drängt, der sich unter dem Vorzeichen der Berufsverbote zum Sozialismus bekennt und der dem vernunftorientierten Verfassungspatriotismus Habermas’scher Prägung sein Nationalgefühl zur Seite stellt. Der Provinz, der er wie die meisten Dichter der Nachkriegszeit entstammt, will Walser Weltgeltung verschaffen. Das Wirtshaus, in dem er aufgewachsen ist, prägt den Poltercharakter seiner Debattenbeiträge. Dabei geht es ihm keinesfalls um den Wahrheitsanspruch seiner Positionen, sondern um die Deutungshoheit über Begriffe. Das aber ist das legitime und, so würde Walser sagen, das wichtigste Aufgabenfeld des Wortkünstlers. Hier zeigt er sich kämpferisch. Penibel beharrt er gegenüber seinem Lektor Karl Markus Michel auf dem Unterschied zwischen Geschichte und Erzählung. Was Deutschland, was Volk bedeutet, das will er nicht den Politikern überlassen; was Literatur ist, nicht den Kritikern; was Liebe ist, nicht der Öffentlichkeit. Auch die Erinnerung soll nicht allein Sache von Historikern und Gedenkveranstaltungen sein. Weil er, wie Max Frisch und Peter Weiss, in den Sechzigerjahren den Frankfurter Auschwitz-Prozess besucht hat, beharrt er bis heute auf einer eigenen Kenntnis des Schreckensortes. Subjektives Erleben setzt jedoch, und hier sieht selbst Magenau die Grenzen von Walsers Geschichtsauffassung, „aufgeklärtes Wissen als Rahmen des Verstehens voraus“.

Auf Meinungsterror reagiert Walser mit kalkuliertem Tabubruch. „Jeder Mensch“, heißt es im 4. Hauptsatz von Walsers „Menschlicher Wärmelehre“, „wird zum Dichter dadurch, dass er nicht sagen darf, was er sagen möchte.“ So fühlt er sich manchmal zum Reden gedrängt, wo er besser geschwiegen hätte. Die Lust, sich zu exponieren, begründet Magenau mit der Spielernatur des regelmäßigen Casinogängers, die immer höhere Einsätze verlangt. Mit Verve spielt er Rollen, die sich nur schwer vereinbaren lassen. Er ist „Medienkritiker und Medienlieferant zugleich, Meinungsverächter und Meinungshervorbringer in Personalunion“. Deshalb sind Walsers Positionen häufig so mehrdeutig und rätselhaft wie die Sprüche der Pythia im delphischen Orakel. Sein Biograf hat alle Mühe, seinen Schützling vor falscher Etikettierung zu bewahren. Viele Kontroversen um Walser wirken heute wie Stürme im Wasserglas. „Clowns sind wir, der Zirkus heißt Kultur“, mildert Walser die Auseinandersetzungen zum Unterhaltungsprinzip. Noch seinen Frontalangriff auf Reich-Ranicki mit „Tod eines Kritikers“ wertet er als „versteckte Liebeserklärung“.

Magenau präsentiert Walser als sensiblen Seismografen, „der auf sich wandelnde Verhältnisse schon reagierte, wenn andere noch nichts bemerkten“. Das erklärt, warum der Dichter scheinbar quer zum Zeitgeist liegt, und promoviert ihn zum „Stimmungs-Avantgardisten“. Gleichzeitig enthebt es die Beteiligten der Aufgabe, das Warum des reichlich dokumentierten Wandels zu ergründen, und überlässt dies anderen. So ist ein höchst subjektives Walser-Porträt entstanden, ein „Unschärfebild“, wie Magenau in seinen „Zehn Sätzen als Nachwort“ konstatiert, das viele Fragen offen lässt, das zum Widerspruch reizt und, was nicht das Schlechteste ist, zum Wiederlesen.

Jörg Magenau: „Martin Walser. Eine Biographie“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005, 624 Seiten, 60 Abb., 24,90 Euro