: Tendenziell wäre dieser Erzählkosmos unendlich
Zeitlos schön: Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah schreibt in „Diebstahl“ über junge Menschen im heutigen Tansania auf dem Weg ins Leben
Von Katharina Granzin
Als Abdulrazak Gurnah 2021 den Nobelpreis für Literatur bekam, wurde das deutschsprachige Verlags- und Buchhandelswesen kalt davon erwischt. Zwar waren ein paar Romane des britischen Autors mit tansanischen Wurzeln bereits ins Deutsche übersetzt worden; doch zur Zeit der Preisverleihung war kein einziger lieferbar. Es ist unwahrscheinlich, dass das dadurch ausgefallene Geschäft im Nachhinein vollständig kompensiert werden konnte. Aber wenn jetzt der erste Roman Gurnahs seit dem Nobelpreis erscheint, kann sein Verlag jedenfalls stolz einen goldmedaillenfarbenen Sticker mit der Aufschrift „Nobelpreis für Literatur“ auf den Umschlag kleben. Tatsächlich wäre zu wünschen, dass dieses bisschen Extrawerbung die Kauflaune der Lesewilligen anfacht, denn der Roman hat es verdient.
Über „Diebstahl“ liegt eine eigentümlich schwebende, schöne Aura der Zeitlosigkeit, obgleich die Handlung genügend Details enthält, die sie in der aktuellen Gegenwart verorten. Auch der Handlungsort wäre im Grunde austauschbar. Zwar ist einiges an unaufdringlich eingeflochtenem Lokalkolorit vorhanden, aber das sollte wohl eher als Bonus betrachtet werden.
Zum größten Teil spielt der Roman in Sansibar, zum kleineren in Daressalam. Die Geschichte aber, die erzählt wird, ist universell, beziehungsweise: eigentlich sind es mehrere Geschichten auf einmal. Zwar hängt hier alles mit allem zusammen, aber „Diebstahl“ einen multiperspektivischen Roman zu nennen, träfe es dennoch nicht ganz. Eher ist es so, als setze die Erzählung jedes Mal mit ganz neuer Energie an, wenn ein neuer Abschnitt aus anderer Perspektive beginnt. Es gibt nicht die eine Storyline, die von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet wird, sondern jede Person erlebt gleichsam ihren eigenen Roman, der hier und da an die Geschichten der anderen Personen anknüpft.
Karim, Fauzia und Badar heißen die drei Hauptfiguren; es sind junge Menschen im heutigen Tansania auf dem Weg ins Leben. Interessanterweise beginnt das Buch jedoch mit einer Nebenfigur, die später nur noch in Außenperspektive gezeigt wird: Raya, so hebt die Erzählung an, sei sehr jung verheiratet worden. Im Folgenden wird mit nüchternen Worten Rayas Martyrium an der Seite eines viel älteren Ehemanns geschildert, den sie nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes verlässt, um wieder bei den Eltern zu wohnen. Dieser Sohn ist Karim, der von den Großeltern großgezogen wird, während seine Mutter distanziert bleibt und irgendwann fortzieht nach Daressalam, um an der Seite eines neuen Mannes ein neues Leben zu beginnen.
Warum erfahren wir all das? Rayas Backgroundstory ist Information allein für die LeserInnen. Wenn diese Einleitung nicht wäre, wüssten wir nicht einmal ihren Namen, denn obwohl dieselbe Frau später, nun mittleren Alters, noch oft im Roman auftaucht, wird ihr Erscheinen stets nur mit der jeweiligen Funktion verknüpft, die sie für die Hauptfiguren hat: Für Karim ist sie seine entfremdete Mutter, zu der er, als er zum Studium nach Daressalam zieht, wieder eine Beziehung knüpfen kann, und die dennoch undurchschaubar für ihn bleibt. Für den um einige Jahre jüngeren Badar ist sie die „Herrin“, die er bewundert ob ihrer Schönheit und ihrer Kochkünste. Wer sie als Person ist, was sie fühlt und denkt – wer weiß das schon? Niemand erfährt es. An dieser Person, die zu Beginn Raya heißt und später bei allen Auftritten namenlos bleibt, wird paradigmatisch, und dabei ganz nebenbei, vorgeführt, wie wenig Menschen eigentlich voneinander wissen.
Karim wird seinen Vater nie treffen und auch nicht erfahren, was dieser seiner Mutter angetan hat. Irgendwann lernt er, nach dem Studium zurückgekehrt nach Sansibar, die schöne und kluge Fauzia kennen, die er heiraten wird. In der Zwischenzeit wird Badar, der als ungeliebtes Pflegekind auf dem Land aufgewachsen ist, nach Daressalam verfrachtet, um als Hausangestellter bei Karims Mutter und deren Mann zu arbeiten. Dass er eigentlich mit der Familie verwandt ist, wird ihm verschwiegen.
Abdulrazak Gurnah: „Diebstahl“. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag, München 2025. 336 Seiten, 26 Euro
Die sehr verschiedenen Lebenserzählungen dieser und weiterer Menschen schlingen sich im Laufe des Romans gleichsam umeinander, gehen Verflechtungen ein, lösen sich wieder, mäandern wie verschiedenfarbige Erzählfäden nebeneinander durch die Zeit. Bei vielen auftretenden Personen hält der Roman sich eine Zeitlang auf, porträtiert auch Nebenfiguren so aufmerksam, dass dahinter weitere mögliche Welten und Geschichten sicht- und spürbar werden, die nur unausgeführt bleiben. Tendenziell wäre dieser Erzählkosmos unendlich, und was uns gezeigt wird, ist nur ein winziger Ausschnitt davon.
Gleichzeitig ist es so, als wolle der Autor seinen Figuren auf keinen Fall zu nahe treten. Auf psychologisierende Innensicht verzichtet er weitgehend, Gefühle werden lapidar benannt, Leidenschaften gleichsam von außen betrachtet. Und obwohl der Roman eine eigentlich reichlich melodramatische Geschichte von Liebe und Verrat, Freundschaft und Entfremdung zu erzählen hat, wird eben kein Melodram daraus, sondern eine sanfte, menschenfreundliche Meditation über menschliche Beziehungen und die seltsamen Um- und Irrwege, auf die sie manchmal geraten können.
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