Alina Schwermer Hin und weg: Charmante Kirmesmischung
Das Dorf Theth ist eine bizarre Kombination aus Einöde und Center Parc. Ich sitze am türkis schimmernden Bach in dem albanischen Örtchen und versuche, den Widerspruch zusammenzubringen. Ein überwältigendes Gefühl von Isolation und Härte liegt in diesem Ort. Mächtige Berge riegeln das entlegene Tal ab; im Winter bleibt Theth von der Außenwelt abgeschnitten, im Herbst ziehen Bären auf Futtersuche hinab, und zwischenzeitlich war der Ort fast verlassen, eine Schule gibt es nicht mehr. Hier lebte, wer von den Mächtigen nicht behelligt werden wollte, Christ:innen zum Beispiel.
Zugleich wollen diese Gefühle partout nicht zur Gegenwart passen. Denn wenn ich mich in Richtung Dorf umdrehe, schaue ich auf eine Vergnügungsmeile. Gasthaus reiht sich an Gasthaus, Café an Café. Eine nie endende Schlange Fahrzeuge schiebt sich den ganzen Tag über eine viel zu kleine Brücke. Über mir rasen kreischende Tourist:innen die Zipline entlang, die 1.200 Meter lange Seilrutsche, in den Bars schenkt man Bier ab morgens aus. Theth wirkt, als sei ein Ferienpark vor einen Bluescreen kopiert worden. Ein Dorf, dessen Geschichte überschrieben wurde.
Es ist das ewige Lied des Tourismus: Disneyland mit Lokalkolorit. Und doch hat Theth Charme. Mit seinem durchmischten Publikum gleicht es fast einem Stadtpark. Hier urlauben Westeuropäer:innen und Osteuropäer:innen, Einheimische, Serb:innen oder Brit:innen, Kosovar:innen oder Russ:innen. Man sieht Familienurlauber, die den ganzen Tag grillen, Akademiker-Wandernerds und Gruppen junger Männer, die den Tag in den Bars verbringen. In der Klassengesellschaft sind eigentlich auch Feriendörfer durchklassifiziert. Man wirbt um eine Klientel, man spricht nicht einfach alle zugleich an. So was schafft eigentlich nur der Strand oder die Kirmes. Und Theth.
Der neue Ort gehört keinem mehr, aber hat für jeden etwas. Selbst die Menschen, die uns bewirten, leben oft nicht in Theth. Sie sind ausgewanderte Verwandte lokaler Familien, für die Saison gekommen. Aus Griechenland oder Italien, ihre Kinder sprechen einen Mix aus Albanisch, Englisch und der neuen Muttersprache. Andere leben in der nächsten Großstadt und kommen nur für die Saison her. Menschen in der strukturschwachen Region verdienen verhältnismäßig selbstbestimmt Geld. Mehr lokale Familien sind seither ins Tal zurückgekehrt. Und Tourist:innen reisen vielfach im Auto statt im Billigflieger an, schlafen in Privathäusern ohne Bettenburgen, gehen viel zu Fuß.
Alina Schwermer schreibt alle vier Wochen übers Gehen, Bleiben und Reisebegegnungen.
Ist das nicht der sanfte Tourismus, von dem alle sprechen? Auch dieser Tourismus, erinnert Theth, ist nicht gar so sanft. Und wir alle sind gemeinsam fremd hier.
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