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PolitikAusbeuterischer Neokolonialismus

Das deutsche Lieferkettengesetz ist endgültig ein Torso. Auch die entsprechende Richtlinie der EU soll bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt werden – damit heimische Hersteller immer weiter von Frauenausbeutung profitieren können, von Kinderarbeit und Sklaverei.

So lässt sich der Profit erhöhen: Kinderarbeit in Delhi. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) ist eine entschiedene Anhängerin von Deregulierung. Keine Woche ohne einschlägige Forderungen, mal an die EU, früher offensiv an die Ampelkoalition, jetzt etwas zurückhaltender an die Bundesregierung aus Union und SPD. Immer in eigenem Namen, immer unabgesprochen mit dem grünen Koalitionspartner in Stuttgart. Angeblich geht es der promovierten Diplom-Kauffrau aus der Industriellenfamilie Kraut (Bizerba SE & Co KG, Balingen, 4.500 Beschäftigte, Umsatz 2024/25: 830 Millionen Euro) um Bürokratieabbau und Technologieoffenheit. Tatsächlich aber sollen Standards aller Art gesenkt oder gleich ganz verschrottet werden.

„Wir sollten unseren Unternehmen wieder mehr Vertrauen schenken“, verlangt die Ministerin in einer Reaktion auf das geänderte deutsche Lieferkettengesetz. Ihr reicht nicht, dass die Bundesregierung die Berichtspflicht für Firmen gestrichen hat. Sie fordert, auch die Dokumentationspflicht abzuschaffen. Ganz offenbar glaubt sie nicht an die Fähigkeit der Hersteller, bei Einhaltung humanitärer und auch christlicher Pflichten, wettbewerbsfähig zu bleiben. Vielmehr unterstellt sie, dass „Made in Germany“ ohne ausbeuterischen Neokolonialismus nicht funktioniert.

Dabei könnte Hoffmeister Kraut ganz andere Wege gehen und sich auf Produzenten berufen, die ein strenges Lieferkettengesetz befürworten, hierzulande und anderswo in Europa. Genauer gesagt: Sie müsste sogar. Denn nach den Zahlen von Unicef arbeiten weltweit 54 Millionen Kinder, viele auf Kakaoplantagen. „Der Kakao für die bei uns so beliebte Schokolade wird vor allem in Côte d‘Ivoire und Ghana angebaut“, schreibt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen in einer aktuellen Analyse der Situation, „und leider werden für diese schwere Arbeit nach wie vor Kinder eingesetzt.“

So unterschiedliche Anbieter wie Ritter-Sport aus Waldenbuch oder der ebenfalls weltweit tätige Steirer Josef Zotter bejahen eine einschlägige Sorgfaltspflicht ohne Abstriche. „Unser Ziel ist es, transparente Lieferketten zu haben und eng mit den Menschen zusammenzuarbeiten, die den Kakao für uns anbauen“, erläutert Ritter-Sport die eigenen Kakao-Partnerschaften. „Wir machen keinen Unterschied bei den Arbeitsbedingungen für unsere eigenen Mitarbeiter*innen oder unserer Lieferant*innen“, schreibt Zotterin der staatlich zertifizierten Umwelterklärung mit der Begründung: „Wir tragen Verantwortung für alle Beteiligten.“

Dieses Bekenntnis müsste nicht nur auf dem Papier längst für die europäische Wirtschaft insgesamt gelten. Und alle Beteiligten hätten sehr viel Zeit gehabt in den Jahren immer neuer Rekordgewinne, sich genau darauf einzustellen. Schon 2011 hatte die EU per Richtlinie die Mitgliedsstaaten verpflichtet, einen Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte aufzulegen. 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen die 17 Ziele der Agenda 2030, an die sich Deutschland gebunden hat. Kinderarbeit sollte bis 2025 beendet und Zwangsarbeit bis 2030 abgeschafft sein. „Der mangelnde Fortschritt ist universell“, schrieb UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Zwischenbilanz vor zwei Jahren, „aber es ist überdeutlich, dass die Entwicklungsländer und die ärmsten und verletzlichsten Menschen der Welt die Hauptlast unseres kollektiven Versagens tragen.“

Ausbeutung mit langer Tradition

So weit waren Teile der Union auch schon mal. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) machte sich in der vorvergangenen Legislaturperiode gemeinsam mit Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf den Weg. Und zwar auf einen, der so oft üblich war, wenn es um die Einführung strengerer Regeln ging und geht. Über eine Selbstverpflichtung der Unternehmen sollten erst einmal „Menschenrechtsstandards verwirklicht werden, die entlang der Lieferketten Kinderarbeit ausschließen und grundlegende ökologische und soziale Mindeststandards sichern“.

Aber nichts geschah. Eine Umfrage im Auftrag der damaligen Bundesregierung fiel 2019 ernüchternd aus: Nur rund ein Fünftel der erfassten 7.300 Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten wollte den neuen Ansprüchen nachkommen. Ein Jahr später wollte sich noch immer weniger als die Hälfte der befragten Firmen daran beteiligen, „dass die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie Kinderarbeit nicht zur Grundlage einer globalen Wirtschaft und unseres Wohlstandes bleiben dürfen“ (Müller). Die beiden Minister sahen sich bestärkt in ihrem Vorhaben, ein neues Gesetz auf den Weg zu bringen. Noch vor der Bundestagswahl 2021 verabschiedeten Union und SPD Regelungen für Unternehmen ab 3.000 Mitarbeitenden, 2024 sollte die Schwelle auf tausend sinken.

Exakt diese Betriebe wollte die EU ebenfalls in die Pflicht nehmen. Inzwischen sind jedoch 5.000 Beschäftigte und 1,5 Milliarden Euro Umsatz als untere Schwelle des Geltungsbereichs geplant und die Umsetzung zur Gänze um ein Jahr verschoben auf 2029. Darauf wiederum bezieht sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag, in dem die Abschaffung deutscher Regelungen ab der Gültigkeit der neuen Europäischen Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) festgeschrieben ist und dass „mit Ausnahme von massiven Menschenrechtsverletzungen“ deutsche Unternehmen bis dahin nicht mehr sanktioniert werden.

Auch in der EU steht das Gesetz auf der Kippe

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will allerdings deutlich mehr. Bei seinem Antrittsbesuch im Mai in Brüssel erklärte er auf einer Pressekonferenz überraschend, er erwarte von der Europäischen Union die Aufhebung der gesamten Richtlinie. Als erste darauf reagiert hat die AfD – mit einem Gesetzentwurf zur Abschaffung. Zwar muss die Union die inhaltlichen Überschneidungen anerkennen, dennoch wird sie in der Zweiten Lesung im Herbst gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD gegen den Vorstoß von ganz rechts stimmen.

In Brüssel und Straßburg steht der Show-down dagegen an. Noch in diesem Jahr soll der weitere Umgang mit der Lieferkettenrichtlinie zwischen Kommission, Europarat und Parlament verhandelt werden. Die SPD hat sich festgelegt. „Eine Abschaffung des EU-Lieferkettengesetzes liegt nicht auf dem Tisch“, sagt der Vorsitzende der sozialdemokratischen Abgeordneten aus Deutschland, René Repasi aus Karlsruhe. Weder im Parlament noch unter den EU-Staaten gebe es eine Mehrheit für einen solchen Schritt.

Dass er am Ende Recht behält, ist noch lange nicht sicher. Hoffmeister-Kraut jedenfalls, die sich nicht mehr als Scharnier zwischen Herstellern und Gesetzgeber:innen versteht, sondern eher als Sprachrohr der Wirtschaft, stellt sich dagegen. Die geplanten EU-weiten Haftungsregeln müssen nach ihrer Ansicht dringend entschärft oder gleich ganz gestrichen werden. Und es folgt ein Satz, der sich liest wie eine Bankrotterklärung für Geschäftsmodelle in „The Länd“ mit einem universellen und wertebasierten Anspruch: „Nur wenn die Politik auf ‚Wirtschaft first‘ setzt, kann Europa im globalen Wettbewerb bestehen.“

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