Gedenktag zur Hafenexplosion im Libanon: Aus fünf Tagen wurden fünf Jahre
Vor fünf Jahren explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Angehörige der Opfer ringen bis heute um Aufklärung und Gerechtigkeit.

Joe Bou Saab war einer der Feuerwehrleute, die praktisch in den Tod geschickt wurden, ohne dass man ihnen mitteilte, dass sich dort explosives Material befindet.
Fünf Jahre später steht seine Tante Nada Awad mit einem Bild des Verstorbenen vor dem Beiruter Hafen. „Wir haben 17 Tage lang gesucht und nichts von ihm gefunden, außer einer SIM-Karte“, erzählt Awad. Das Haus ihrer Schwester sei seitdem wie ein Schrein: „Dort schläft sie unter Schlafmitteln und bewahrt die Kleidung ihres Sohnes auf, die niemand berühren darf.“ Ihre 50-jährige Schwester sei nervlich am Ende, ihr Schwager könne nicht mehr arbeiten. „Beide verbringen ihre Tage damit, Fotos von Joe anzuschauen.“
Durch die Explosion starben mindestens 250 Menschen, rund 6.000 Menschen wurden verletzt, knapp 300.000 verloren ihr Zuhause. Die Explosion zerstörte Häuser und das Gefühl von Heimat und Sicherheit.
Fünf Jahre sind vergangen – ohne Ermittlungsergebnis
Fünf Tage brauche man, hatte der damalige Ministerpräsident Hassan Diab angekündigt, um alles aufzuklären. Nun sind fünf Jahre vergangen, Diab ist lange nicht mehr Kabinettschef und selbst angeklagt wegen Fahrlässigkeit. Vorläufige Untersuchungen ergaben, dass er und viele hochrangige Beamte bis hin zum damaligen Präsident Michel Aoun über das Ammoniumnitrat informiert waren. Trotzdem lag die hochexplosive Fracht fast sechs Jahre lang achtlos im Hafen.
Fünf Jahre später ist das Land der Gerechtigkeit keinen Schritt näher. Politische Akteure behindern die innerstaatliche Untersuchung – hauptsächlich die Partei und Miliz Hisbollah.
Der erste Untersuchungsrichter, Fadi Sawan, lud namhafte Politiker zur Befragung vor. Diese beantragten die Überweisung des Falls an einen anderen Richter. In einem Gerichtsurteil heißt es, Sawans Haus sei bei der Explosion beschädigt worden und er sei daher parteiisch. Im Februar 2021 übernahm Tarek Bitar. Er erließ Haftbefehle gegen die Ex-Minister Ali Hassan Khalil und Ghazi Zeiter, Verbündete der Hisbollah. Die Sicherheitskräfte weigerten sich, die Haftbefehle zu vollstrecken. Der ehemalige Generalstaatsanwalt, Ghassan Oueidat – selbst von Richter Bitar angeklagt – reichte Beschwerde gegen Bitar ein, wodurch die Ermittlungen eingestellt wurden.
Nach zwei Jahren – und einem Machtverlust seitens der Hisbollah – nahm Bitar im Februar 2025 seine Arbeit wieder auf. Ein neuer Generalstaatsanwalt hob die verhängten Maßnahmen gegen ihn auf, unterstützt durch den neuen Präsident Joseph Aoun und Premierminister Nawaf Salam, die den Opfern Gerechtigkeit versprechen.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Jedes Jahr demonstieren die Angehörigen erneut
Dafür protestieren die Angehörigen heute noch. Jedes Jahr ziehen sie vom Märtyrerplatz und der Feuerwehr-Station an den Hafen. Mit einer Schweigeminute und Fotos der Verstorbenen auf einem großen Bildschirm gedenken sie der Toten.
Am fünften Jahrestag der Tragödie gibt es erstmals so etwas wie Optimismus. Der seit Januar regierende Nawaf Salam war zuvor Chef des internationalen Gerichtshofs. Er gilt als unabhängig von Korruption.
Sibelle Audi, hat ihre Mutter verloren
Die neue Regierung ist symbolische Schritte gegangen: Kulturminister Ghassan Salameh hat das zerstörte Weizensilo als historisches Denkmal annerkannt. Justizminister Adel Nassar und Premier Salam haben sich drei Mal mit den Familien getroffen. Am Vorabend des Jahrestages eröffnete Salam einen Gedenkpfad mit 75 Olivenbäumen vor dem Hafen, die Namen der Opfer tragen.
Die 19-Jährige Sibelle Audi steht vor den Olivenbäumen. Bei der Explosion hat sie ihre Mutter verloren. „Es ist eine Wunde, die seitdem blutet.“ Ihre Stimme bricht. „Ich komme jedes Jahr her, um Gerechtigkeit für sie zu fordern, dass die verantwortlichen Beamten für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.“ Hoffentlich werde die Regierung das Recht durchsetzen, sagt sie.
„Weder Gerechtigkeit noch Reformen“
Viele Angehörige sehen in Rechenschaftspflicht auch die Verknüpfung zur Hisbollah, die das Ammoniumnitrat für Fassbomben in Syrien gelagert haben soll. So auch Nada Awad:„Solange im Libanon Waffen vorhanden sind, kann es weder Gerechtigkeit noch Reformen geben.“ Die Hisbollah müsse ihre Waffen deshalb in die Hände des Staates geben. „Ich bin heute hier, um dies zu fordern. Damit nichts mehr explodiert, niemand mehr stirbt, niemand mehr seine Kinder beerdigen muss.“ Am Dienstag soll das Kabinett über einen Plan zur Entwaffnung entscheiden.
Obwohl der Weg zur Gerechtigkeit noch lang ist, gibt es erstmals Optimismus. Eine Entscheidung des leitenden Staatsanwalts werde in Kürze erwartet, erklärten Aktivisten und Rechtsquellen dem arabischen Sender Al Jazeera.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wolfram Weimers Genderverbot
Weg mit dem Wokismus
Sprache in Zeiten des Kriegs
Soll man das Wort „kriegstüchtig“ verwenden?
Bürgergeld
Union und SPD setzen auf Härte gegen Arbeitsverweigerer
CDU-Politikerin Saskia Ludwig
Diskutieren bei einer Gruselshow in Ungarn
Weniger Verkehrstote in Helsinki
Tempo 30 rettet Leben
Wahlrecht in Deutschland
Klöckner will Reform der Reform