: „Eine halbe europäische Öffentlichkeit“
Der Politologe Jan-Werner Müller hält die Kritik an der EU-Verfassung für oftmals übertrieben und verfälschend. Die Mitgliedsländer bleiben souverän – denn der Vertrag erlaubt viel mehr Spielraum für Abgrenzungen als behauptet
taz: Am 12. Mai stimmt der Bundestag über die Europäische Verfassung ab. Wäre auch in Deutschland ein Referendum sinnvoller gewesen?
Jan-Werner Müller: Die augenblickliche Situation in Europa ist wohl die schlechteste aller Möglichkeiten. Einerseits hat man den Verfassungsvertrag als qualitativ völlig neu dargestellt – obwohl er vor allem eine Konsolidierung des Erreichten ist. Dann ist man aber auf halbem Weg stehen geblieben. Es wäre zum Beispiel konsequenter gewesen, die Bevölkerungen aller Länder hätten gleichzeitig abgestimmt, etwa am 9. Mai, dem Europatag. Zeitversetzt in zehn Ländern Referenda durchzuführen, bietet viele Anreize zum Tricksen, also etwa die Abstimmung zu wiederholen oder sich nicht mit der Verfassung zu befassen, sondern mit nationalen Themen.
Wird die Ratifizierung in Deutschland dem Referendum in Frankreich Schwung geben?
Eher nicht. Bei kleinen Ländern wie den Niederlanden könnte es aber zu dem Gefühl führen, es werde Druck durch die Großen ausgeübt.
Hätte ein Referendum die Deutschen aus ihrer Europamüdigkeit geweckt?
Eine Abstimmung generiert mehr Debatten, das ist richtig. Andererseits ist nicht garantiert, dass diese Debatten dann sachlich und sinnvoll geführt werden. Eine politische Klasse muss sich bemühen, Inhalte sowohl leidenschaftlich als auch sachlich darzustellen, was in Frankreich bisher nur halbwegs geschehen ist. Dagegen steht die völlig opportunistische Demagogie der Verfassungsgegner. Ein wichtiges Argument ist etwa, Frankreich verliere die Kontrolle über die Einwanderung, was schlichtweg falsch ist. An der Verfassung kristallisieren sich nun viele aktuelle Ängste und Ressentiments.
Führen die Plebiszite zur vielgesuchten europäischen Öffentlichkeit?
Es gibt momentan, was man „halb geöffnete europäische Öffentlichkeiten“ nennen könnte. In Deutschland hört man, die Franzosen seien irgendwie gegen die Verfassung, weil sie zu marktradikal sei. Und die Briten seien dagegen, weil sie zu wenig Markt biete. So genau weiß man es nicht. Aber diese „halben Öffentlichkeiten“ kann man durchaus als Schritte zu einer europäischen sehen. Nur müssen sich die Eliten entscheiden, ob man mit Bürgernähe nur Akzeptanz oder gar das Abnicken von Beschlüssen meint, oder ob man auch das Risiko von genuin zivilgesellschaftlichem Aktivismus – auch euroskeptischem – eingeht.
Wieso gelingt es der EU nicht, sich den Bürgern zu erklären?
Die Bürger interessieren sich einfach nicht so sehr für Brüssel. Das ist auch gar nicht so irrational. Die EU hat viel weniger Einfluss auf das Leben der Europäer, als oft behauptet wird. Die Steuer-, Bildungs- und Sozialpolitik etwa wird in Deutschland oder Ungarn gemacht, nicht in Brüssel.
Aber ein erheblicher Prozentsatz der nationalen Gesetzgebung folgt inzwischen Vorgaben aus Brüssel …
… die vorher vom Rat, also den nationalen Regierungen, mit abgesegnet wurden. Auch bei den neuen Mehrheitsentscheidungen im Rat bleibt den Mitgliedsstaaten eine „Notbremse“. Und wie welche Politikbereiche künftig gemeinsam ausgestaltet werden, etwa im Bereich der Verteidigungspolitik, ist offen.
Sie sind nicht in der Verfassung festgeschrieben?
Der Vertragstext ist im Vergleich zu vorherigen europäischen Projekten eher bescheiden. Ironischerweise wird es deswegen auch schwieriger sein, Länder, die mit „Nein“ stimmen, aus einzelnen Geltungsbereichen zu entlassen, wie das etwa beim Euro geschehen ist. Der Vertrag sichert den Einfluss der Mitgliedsstaaten und erlaubt ihnen, in der Integration voranzuschreiten – aber auch, ganz aus der Union auszutreten.
Ist das Neue also Flexibilisierung, nicht Demokratisierung?
Transparenz und Demokratisierung sind nicht zu unterschätzen. Das Europäische Parlament erhält mehr Einfluss, die nationalen Parlamente werden näher an Europa herangeführt. Die grundsätzliche Frage ist aber, wie Demokratie in Europa künftig verstanden wird. Die Zuspitzung – überdimensionierter Nationalstaat oder supranationale Technokratie – ist falsch.
Was bedeutet es für die EU, wenn die Verfassung scheitert?
Die EU steht vor einem genuin politischen Konflikt zwischen zwei Lagern, das der Integrationisten, die eine vertiefte Zusammenarbeit wollen, und das der Erweiterer. Im Grund ist das wichtigste Element der Verfassung, dass sie beide Entwicklungen zulässt. Sie ermöglicht manchen Ländern, in der Integration voranzuschreiten. Sie schlägt aber neuen Beitrittskandidaten die Tür auch nicht vor der Nase zu. Vielleicht wird es eine Union mit einer intensiven Zusammenarbeit in der Sozialpolitik sein, es könnte aber auch eine Art stetig expandierender liberaler Commonwealth entstehen. Das Tragische an der Debatte ist, dass die Verfassung viel mehr Möglichkeiten offen lässt, als das derzeit dargestellt wird. INTERVIEW: HEIKE HOLDINGHAUSEN