Friedenspreis an Historiker Schlögel: Dialektiker des Ostens
Der Historiker Karl Schlögel erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Für die Ukraine geht er auch auf die Straße.
Als einer der engagiertesten Osteuropakenner hat Karl Schlögel es redlich verdient – am Dienstag wurde bekannt, dass der renommierte Historiker den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Er wird die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung am 19. Oktober während der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche entgegennehmen.
„Als Wissenschaftler und Flaneur, als Archäologe der Moderne, als Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen hat er schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs Städte und Landschaften Mittel- und Osteuropas erkundet,“ heißt es in der Begründung der Jury. Mit seinen Schriften korrigiere Schlögel Vorurteile und wecke Neugier.
Dem kann man nur beipflichten. In seiner allgemeinverständlichen wie tiefgehenden Analyse „Terror und Traum“ aus dem Jahr 2008 rekonstruiert Schlögel das Leben in Moskau im Jahr 1937 unter der Schreckensherrschaft Stalins. Schlögel zeigt, dass es nicht nur von Willkür und Gewalt, sondern auch von utopischen Träumen von einer besseren Zukunft geprägt war – eine häufig übersehene Gleichzeitigkeit. Zuletzt erschien 2023 „American Matrix“, eine Geschichte der USA durch die Augen eines Osteuropahistorikers in Amerika.
Puschkin-Medaille 2014 abgelehnt
Beeindruckend ist nicht nur Schlögels Spagat zwischen Akademie und Publizistik. Er ist auch als entschiedene Stimme in der deutschen Öffentlichkeit präsent, die sich solidarisch zeigt mit all denjenigen in Ost- und Mitteleuropa, die für Freiheit und Menschenrechte einstehen. Und das lebt er. Im Jahr 2014 lehnte er die Puschkin-Medaille wegen der damals begonnenen russischen Besatzung ukrainischer Gebiete ab.
1948 als Bauernsohn im Allgäu geboren, kam er dort auf dem elterlichen Hof früh mit Flüchtlingen aus dem Osten in Berührung. In einem Benediktinerinternat in Bayern lernte er Russisch. Sein Lehrer war aus Ostpolen in den amerikanischen Sektor geflüchtet. Eine Klassenfahrt im Jahr 1966 führte ihn zum ersten Mal in die Sowjetunion. 1968 erlebte er den Prager Frühling vor seiner Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Pakts mit – eine Erfahrung, die ihn langfristig prägen sollte.
Es folgte ein Studium der osteuropäischen Geschichte, Philosophie, Soziologie und Slawistik an der Freien Universität Berlin. In seiner Dissertation setzte sich Schlögel mit Arbeiterkonflikten in der Sowjetunion auseinander. Zeitweise war er in der maoistischen KPD aktiv.
Bei Demonstrationen mit Ukraineflagge
Vor seiner Emeritierung 2013 hatte Schlögel die Professur für die Geschichte Osteuropas an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) inne und forschte dort zur Kulturgeschichte Osteuropas, Geschichte der russischen Emigration und zu Stadtkulturen im mittleren und östlichen Europa. Er ist kein Gelehrter, der nur am Schreibtisch verharrt, sondern einer, der auch auf die Straße geht. Man sah ihn in den vergangenen Jahren bei zahlreichen Demonstrationen in Berlin – mit einer großen Ukraineflagge um die Schultern.
In seiner Rede anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Gerda-Henkel-Preis im vergangenen Herbst betonte Schlögel, der russische Überfall auf die Ukraine im Jahr 2014 sei für ihn „der Schock“ gewesen: „Verstehen, dass man noch einmal ganz von vorne beginnen muss: In diesem Fall hieß das: endlich wahrzunehmen und anzuerkennen, dass es ein Land, einen Staat, eine Nation namens Ukraine gab, die in einem russozentrischen, ganz und gar auf die Hauptstadt der ehemaligen Sowjetunion fixierten Blick immer nur als Hinterland, Durchgangsland, Peripherie, Provinz wahrgenommen wurde, ohne eigene Geschichte, Kultur und Sprache. Man traut es sich kaum auszusprechen: Es bedurfte eines Krieges, um die Ukraine auf unsere mentale Landkarte zu bringen, aus dem Abseits ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.“
Der zweite Schock war die Vollinvasion im Februar 2022. Daraus zog Schlögel Konsequenzen, beschloss, „noch einmal auf die Schulbank zurückzugehen“, wie er bescheiden und selbstkritisch zugibt.
Schlögel setzt sich für die Ukraine, aber auch unermüdlich für die russische Zivilgesellschaft ein, die sich gegen die Diktatur und den Krieg stellt. Der kürzlich erschienene Sammelband „Memorial. Erinnern ist Widerstand“, herausgegeben von Mitgliedern der in Moskau gegründeten Menschenrechtsorganisation, enthält einen erhellenden Beitrag des Osteuropahistorikers.
Es übersteige die Macht selbst der „noch mächtigsten Diktatoren“, individuelle und kollektive Gedächtnisse vollständig zu beherrschen, schreibt Schlögel darin. Es sei gerade die Gegenwartserfahrung sinnloser Gewalt, es seien die verbrecherischen Praktiken des Kremls, die in einer „eigentümlichen Dialektik der Aufklärung“ die verlogenen Narrative der Staatsmacht wider Willen enttarnten und zerstörten. Dieser Dialektik gehöre die Zukunft.
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