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Neue Gedichte von Esther KinskyEin Lied über die Ewigkeit

Esther Kinskys vielschichtiger Gedichtzyklus „Heim.Statt“ umkreist einen zentralen Komplex der Menschheitsgeschichte: Auswanderung, Flucht und Gewalt.

Grenzen überwinden, die der Länder, auch die der Sprachen: Esther Kinsky Foto: Georg Hochmuth/APA/dpa

Esther Kinsky bleibt mit ihrer Kunst nah am Boden. Sie hat schon mehrfach geologische Schichten untersucht, das Material der Erde, und es mit überraschenden Effekten dem Material der Sprache ausgesetzt. Dadurch entsteht eine sehr charakteristische ästhetische Reibungsfläche.

Auch Kinskys neuer Gedichtband „Heim.Statt“ ist in solcher Weise Konzeptkunst. Er besteht aus sieben Langgedichten, die in unterschiedlichen geografischen Zonen angesiedelt sind, und im Zusammenklang entsteht ein großes Thema: Auswanderung, Flucht, Gewalt, Verlust der Heimat – Letztere wird aber gleichzeitig auch in kleinste, sinnlich spürbare und leuchtende Facetten aufgeteilt.

Es sind entlegene Gegenden: der Norden Schottlands oder dünn besiedelte Landstriche in Polen, und ein besonderes Zentrum liegt in Südosteuropa, wo deutsche, italienische und slawische Dialekte und Sprachen ineinander übergehen.

Karges Leben der Frauen

Man kann in den einzelnen Langgedichten inhaltliche Momente bestimmen, auch wenn sie nicht auserzählt, sondern durch klangliche Mittel wie Reihungen, Alliterationen, Assonanzen evoziert werden: die schlechten landwirtschaftlichen Bedingungen in Schottland, die Armut in Polen, das karge Leben der Frauen im Karstgebiet, wo die Männer nur im Sommer nach Hause kommen.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht aber auch die Dynamik der Sprache selbst. Sie macht die existenziellen Dimensionen erst sichtbar. Das Starre, Unabänderliche tritt durch Partizipialkonstruktio­nen und Substantivierungen zutage, und durch die Kombination der jeweiligen Ursprungs- mit der deutschen Sprache entstehen eigentümliche Effekte.

Das englische „sea“, das Meer, taucht in der schottischen Sphäre in verschiedenen Zusammenhängen auf, deutsche und englische Wörter durchdringen sich so, dass „sea“ auch als der deutsche Imperativ „sieh!“ gelesen werden kann, „vom rand her sea“. Das Aussichtslose wird beredt, und die Passage endet mit den Zeilen: „decipher / the interstices / sprich zu mir / meer.“

Interstices, Zwischenräume: dies sind die Fluchtpunkte, die Lebensmöglichkeiten. Dass die Sprachen ineinandergreifen, ist Programm. Es gibt in diesen Gedichten keine einzelnen Länder, sondern Schicksale. Und sie werden zusammengesehen durch einen poetischen Blick, der nichts Romantisches hat, sondern etwas unabdingbar Zeitgenössisches.

Schroffe Zeilenbrüche

Man muss sich in diese Texte, die zum Teil mehrstimmig sind, langsam hineinlesen. Sie thematisieren sich mitunter auch selbst: „Mergel die altwand aus bröckelnder schrift wohin mit den schritten knöcheltief schlurfend bis stolpernd in senken aus unreifem gestein (…)“. Rhapsodische lyrische Prosa und schroffer, spröder Zeilenbruch wechseln sich oft ab.

Und der Gesamttitel „Heim.Statt“ bildet einen Schlüssel für die sprachlichen Bewegungen. Die Trennung mitten im Wort, die Trennung der vertrauten, innigen Bezeichung „Heimstatt“ in zwei auseinanderfallende Teile weist auf einen grundlegenden Gegensatz. Die Texte des Bandes stehen anstelle einer Heimat, statt einer Heimat, aber vielleicht finden sie etwas Entsprechendes in ihrem eigenen Suchen und Voranschreiten.

In einem zerklüfteten Gebiet voller Minderheiten, im Nordosten Italiens, wo das Slowenische, das Friaulische und Alpendialekte wie direkt aus dem Mittelhochdeutschen aufeinanderstoßen, entfaltet Esther Kinsky eine vielgestaltige Binnenwelt aus Sträuchern, Beeren, Vögeln und menschlichen Werkzeugen. Und auch im Langgedicht „Nist“ fließen zwei verschiedene Sprachen zusammen.

Die Zeilen drehen sich um eine Bauernmagd, es fällt ein früherer Ortsname „Grundischken“. Aus der Zeile „Gänsegret i pieśn o wiecznej“ (Gänsegret und ein Lied über die Ewigkeit) lässt sich eine deutsch-polnische Zeitlosigkeit herauslesen. Die Magd träumt davon, sich in einen Vogel zu verwandeln und sämtliche Grenzen zu überwinden, und damit sind keineswegs nur politische gemeint; es geht auch um die Grenzen der Sprache.

Das deutsch-polnische Sprachspiel gestaltet sich gegen Ende so („Skrzydelka“ heißt „Flügel“): „Andrzejki hat einen singfink beschert / und ein paar flügel / aus wachs / weiße gebildchen gefiedergerillt / skrzydelki ein flirrsprich zur nacht / ein skrzydelgeschirr für den ritt (…)“

Das Buch

Esther Kinsky: „Heim.Statt“. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 155 Seiten, 25 Euro

Siebenmal Balkanroute

Das Rhythmische verbindet sich in diesen Gedichten mit bestimmten Bildern, die wiederkehren und selbstständige Motivkomplexe bilden. Der Text entwirft seinen eigenen Sinnzusammenhang und stellt ihn der vorgefundenen Wirklichkeit entgegen. So entsteht ein immer dichter werdendes Netz mit literarischen Bezügen. Und die Dichterin intensiviert das noch dadurch, dass jedem der sieben Langgedichte eine Art Appendix nachgestellt wird, und jeder trägt dabei dieselbe Überschrift: „Balkanroute“.

Die aktuelle Flüchtlingsthematik, die dieses Wort benennt, wird in den kurzen Texten aber nur indirekt aufgegriffen. Sie weitet sich aus auf einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden. Einzelne Motive werden auf dieser Route in verschiedenen Durchläufen, vom Mittleren Osten bis zum Balkan, variiert, vom zentralasiatischen Khorasan bis ins klassische Griechenland.

Es geht um antike Mythen wie denjenigen von Orpheus und Eurydike und um die Angst vor dem Sprachverlust, um die Nachtigall und um die Schwalbe, um die Rosenfelder bei Szeged oder den persischen Dichter und Astronomen Omar Khayyam aus dem 11. Jahrhundert. Auf diese Weise weitet sich der Horizont. Und die vielschichtige, die vielgestaltige Kunst mindert nicht, sondern verstärkt die Dringlichkeit. Das ist eine der zentralen Botschaften dieses Buches.

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