Hunger im Gazastreifen: 3.000 Tonnen schwere Hoffnung
Nach Monaten der Blockade lässt Israel wieder Hilfslieferungen nach Gaza zu. Trotz der zeitweisen Feuerpausen sollen seit Sonntag dutzende Menschen ums Leben gekommen sein.

Diese Regelung, die zunächst für eine Woche gilt, soll den Vereinten Nationen und dem Rotem Kreuz ermöglichen, Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. Unklar bleibt, wer die Waffenpause überwacht, auch eine Koordination mit den Hilfsorganisationen ist schwierig.
Die Kämpfe gehen außerhalb der festgelegten Zeiten und Gebiete weiter. Laut palästinensischen Angaben starben seit Beginn der Feuerpause mindestens 63 Menschen, darunter neun, die in einer Essensschlange standen. Sechs weitere Menschen sollen verhungert sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor einer dramatischen Verschärfung der Lage. Jedes fünfte Kind im Gazastreifen leidet inzwischen an akuter Unterernährung – eine Verdreifachung im Vergleich zum Vormonat.
Trotz aller Hindernisse sehen UNO und Rotes Kreuz in den Feuerpausen eine Chance, die sie nutzen wollen. „Es ist ein Silberstreif am Horizont“, sagt der Österreicher Jürgen Högl, der die Hilfslieferungen des Roten Kreuzes von Kairo aus koordiniert. Am ersten Tag der Feuerpause seien rund 3.000 Tonnen Lebensmittel aus Ägypten und Jordanien nach Gaza gebracht worden, berichtet er. Allein das Rote Kreuz habe von Ägypten aus 105 Lkws mit 840 Tonnen Mehl und 450 Tonnen Lebensmitteln geschickt.
Wirksamer als Hilfe über Luftweg
Diese Zahlen sind kein Vergleich zu den Abwürfen von Lebensmitteln aus der Luft, die am ersten Tag medienwirksam durchgeführt wurden. „Diese Air-Drops haben in Summe 25 Tonnen Lebensmittel nach Gaza gebracht. Lkws haben am gleichen Tag 3.000 Tonnen Hilfe nach Gaza geliefert. Der Vergleich sagt eigentlich alles“, sagt Högl. Viele Abwürfe landeten laut Berichten zudem in Evakuierungszonen oder in Gebieten, in denen die israelische Armee operiert. Die Güter dort abzuholen, sei lebensgefährlich.
Doch auch die Lkw-Lieferungen sind kompliziert. Die Fahrzeuge müssen nicht nur in den Gazastreifen gelangen, sondern auch sicher zu Lagerhallen fahren, von wo aus die Verteilung erfolgt. „Das alles erfordert viele Stunden der Koordination, zunächst um die Hilfsgüter vom Übergang abholen zu können.
Wir müssen oft lange warten, um uns zu einem bestimmten Punkt zu bewegen, dort erneut warten und dann die weitere Bewegung koordinieren, da die Truppen vor Ort ihre Operationen unterbrechen müssen, damit wir uns überhaupt zwischen den Kampfhandlungen bewegen können“, schildert Olga Cherevko, die Sprecherin von OCHA, der UN-Organisation für Humanitäre Angelegenheit in Gaza, die Schwierigkeiten gegenüber der taz.
Die Atmosphäre der Unsicherheit und das mangelnde Vertrauen der Menschen vor Ort, dass die Hilfe tatsächlich ankommt, hätten eine sehr chaotische Situation geschaffen: „Viele unserer Konvois werden von Tausenden – ja, Zehntausenden – hungernden und verzweifelten Menschen umringt, die die Hilfsgüter direkt von den Lkws abladen“.
Für die humanitären Helfer sei das eine gefährliche Situation: „Wir müssen bezahlen für eine Hungersnot, in der die Menschen versuchen, das wenige, das greifbar ist und das sie jetzt vor Augen haben, für sich und ihre Familien zu bekommen“, sagt Rotkreuz-Koordinator Högl.
Tausende Lkws warten auf Genehmigung zur Einfahrt
Er fordert einen echten Waffenstillstand statt stundenweiser Pausen in einzelnen Gebieten. Nur so könne die Versorgung der zwei Millionen Menschen im Gazastreifen sichergestellt werden. „Im Unterschied zum Waffenstillstand im Januar gibt es im Moment nach wie vor Kampfhandlungen. Die Waffen sollten nicht nur in einigen Gebieten taktische Pausen einlegen, sondern in allen Gegenden des Gazastreifens, sodass wir dort auch ungehindert und sicher für die Bevölkerung, aber auch sicher für die Helfer Lebensmittel und andere Hilfsgüter verteilen können“, erläutert Högl.
Die Lagerhäuser rund um Gaza sind voll, Tausende Lkws warten auf die israelische Genehmigung zur Einfahrt. Es habe sich „ein kleines Fenster geöffnet“, sagt Högl. Wie lange es offen bleibt, sei jedoch ungewiss. „Im besten Fall wird aus der einer Woche, die uns gegeben wurde, eine zweite Woche oder ein Monat. Im schlimmsten Falle gehen die Grenzen nach ein paar Tagen wieder zu“, beschreibt er die volatile Lage. Er werde versuchen, jede ihm gegebene Zeit zu nutzen, um so viel Hilfe wie möglich nach Gaza zu bringen. „Aber am Ende des Tages“, sagt er, „ist das keine Frage der Logistik, sondern des politischen Willens.“
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